Bartimäus 02 - Das Auge des Golem
packte den Stock und zog einmal kräftig daran, sodass der alte Herr das Gleichgewicht verlor und gegen die Ufermauer taumelte. Dann machte sie sich schleunigst aus dem Staub, doch schon bald hörte sie wieder das flinke Tappen hinter sich.
Sie fuhr herum. »Hören Sie mal…«
Er war ihr dicht auf den Fersen, käsebleich und keuchend. »Bitte, Miss Jones. Ich verstehe ja, dass Sie wütend sind. Wirklich. Aber ich bin auf Ihrer Seite. Was halten Sie davon… was halten Sie davon, wenn ich die Strafe begleiche, die Ihnen das Gericht aufgebrummt hat? Die ganzen sechshundert Pfund. Wäre Ihnen damit geholfen?«
Sie sah ihn groß an.
»Aha. Jetzt hören Sie mir zu. Endlich.«
Kittys Herz raste vor Verwirrung und Zorn. »Was soll das heißen? Sie wollen mich doch bestimmt reinlegen! Damit man mich wegen Verschwörung verhaftet… oder so was…«
Er lächelte, wobei sich die Haut über seinen Wangenknochen spannte. »Aber Miss Jones! Das ist mitnichten meine Absicht. Ich möchte Sie zu überhaupt nichts verleiten. Hören Sie. Ich heiße Pennyfeather. Hier ist meine Karte.« Er griff in die Manteltasche und reichte Kitty schwungvoll eine kleine Visitenkarte. Über den Text:
T. E. PENNYFEATHER / KÜNSTLERBEDARF
waren zwei gekreuzte Pinsel gedruckt. Unten stand eine Telefonnummer. Kitty nahm die Karte zögernd an sich.
»Gut. Ich geh dann mal. Überlasse Sie Ihrem Spaziergang. Schöner Tag zum Spazierengehen. Die Sonne kommt raus. Rufen Sie mich an, wenn Sie interessiert sind. Sie haben eine Woche Zeit.«
Obwohl sie selbst nicht wusste, warum, bemühte sich Kitty zum ersten Mal seit ihrer Begegnung, höflich zu sein. »Aber warum wollen Sie mir helfen, Mr Pennyfeather? Dazu haben Sie doch gar keinen Grund.«
»Doch, aber das… ah! Was soll…?« Der Aufschrei galt zwei jungen Männern, die, ihren teuren Anzügen nach zu urteilen, Zauberer sein mussten. Sie schlenderten laut lachend die Straße entlang, ließen sich im Gehen ein Falafel aus dem persischen Imbiss schmecken und gingen so dicht an dem Alten vorbei, dass sie ihn unsanft streiften und beinahe in den Rinnstein geschubst hätten. Ohne sich auch nur umzudrehen, spazierten sie fröhlich weiter. Kitty streckte dem Alten hilfsbereit die Hand hin, zuckte aber zurück, als sie seinen vor Zorn sprühenden Blick sah. Er richtete sich langsam wieder auf, stützte sich schwer auf seinen Stock und brummelte etwas vor sich hin.
»Verzeihen Sie«, sagte er dann. »Immer diese… die glauben, ihnen gehört die Welt… Was wahrscheinlich auch der Fall ist. Jedenfalls noch.« Er ließ den Blick die lange Promenade entlangschweifen. Überall herrschte geschäftiges Treiben, strömten Leute in die Läden und Buden oder bogen in die überfüllten Nebenstraßen ein. Auf der Themse trieben vier vertäute Kohlenkähne flussabwärts, die Kahnführer lehnten rauchend an der Reling. Der Alte bleckte die Zähne. »Diese Dummköpfe haben ja keine Ahnung, was über ihren Köpfen alles herumschwirrt oder auf der Straße hinter ihnen herhüpft. Und wenn sie doch etwas ahnen, trauen sie sich nicht, etwas dagegen zu unternehmen. Sie lassen die Zauberer unbehelligt durch die Gegend stolzieren, dulden es, dass sie ihre Paläste auf den krummen Buckeln der Arbeiter errichten, dass sie Recht und Gesetz in jeder Hinsicht mit Füßen treten. Sie und ich dagegen… wir haben am eigenen Leib gespürt, wozu Zauberer fähig sind. Und wie sie ihren Willen durchsetzen. Wir beide sind vielleicht nicht ganz so angepasst wie die anderen, hm?«
Er strich sich die Anzugjacke glatt und grinste auf einmal. »Aber Sie müssen Ihre eigenen Schlüsse ziehen. Ich will Sie nicht beeinflussen. Nur eins noch: Ich glaube Ihnen Ihre Geschichte. Die ganze Geschichte natürlich, aber vor allem den Teil mit der Schwarzen Schleuder. Wer wäre so dumm, sich so etwas auszudenken, wenn er keine Verletzungen vorzuweisen hat? Und genau das macht Ihren Fall so interessant. Ich erwarte Ihren Anruf, Miss Jones.«
Damit machte der Alte auf dem Absatz kehrt und bog mit energischem Schritt und übers Pflaster klapperndem Stock in die nächste Nebenstraße ab, ohne auf die flehentlichen Anpreisungen eines Kräuterhändlers zu achten, der in der Tür seines Ladens stand. Kitty sah ihm nach, bis er weiter oben in die Strand einbog und ihren Blicken entschwand.
Während sie wartend in dem dunklen Keller herumsaß, rief sich Kitty noch einmal alles vor Augen. Wie lange her ihr das alles inzwischen vorkam; wie naiv sie
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