Bei Tag und bei Nacht
Gennies Wesen schlummerte die gleiche Leidenschaft, die aus ihren Bildern sprach. Darüber hinaus wusste sie sehr wohl, dass sie sich jeden Mann zum Sklaven machen konnte, und genoss es.
Grant legte den Pinsel beiseite und massierte die verkrampften Finger. Er jedenfalls hatte die Genugtuung, sie abgewiesen zu haben. Abgewiesen? Er lachte höhnisch, zum Teufel auch! Wäre das wirklich der Fall, warum saß er dann hier und erinnerte sich so deutlich, wie sie in seinen Armen gelegen hatte? War die Welt um ihn nicht für Sekunden ausgelöscht gewesen, um sich dann neu zu füllen – nur mit Gennie?
Eine Sirene? Wahrhaftig, so könnte man sagen. Mühelos würde sie jeden Mann mit ihrem Lächeln, ihrem Singen und ihrem Zauber gegen eine Felsenküste führen. Aber nicht Grant Campbell! Er war nicht der Mann, der sich durch eine verführerische Stimme und ein Paar verlockender Augen verhexen ließ. Wahrscheinlich würde sie nach seiner Abschiedsbemerkung gar nicht wiederkommen. Grant schaute zum Fenster hinüber, aber er beherrschte sich und sah nicht hinaus. Stattdessen nahm er einen Pinsel und arbeitete fast eine Stunde lang ununterbrochen. Und Gennie geisterte im Hintergrund seiner Gedanken.
Später säuberte er Bürsten und sonstiges Werkzeug. Er war zufrieden, dass die Bildserie doch noch planmäßig fertig geworden war. In Grants Vorstellung formte sich bereits eine Fortsetzung. Das trug sehr zur Besserung seiner Stimmung bei.
Gewissenhaft wie in keinem anderen Bereich seines täglichen Lebens, räumte er sein Studio auf. Jedes Teil hatte in dieser wohlüberlegten Ordnung seinen Platz. Die Flaschen und Gefäße standen glänzend in den verschlossenen Glasschränken. Der fertige Bildstreifen blieb auf dem Zeichenbrett, bis er ganz trocken war.
Grant nahm sich Zeit, um in der Küche herumzuwirtschaften und nach Essbarem zu suchen. Aus dem tragbaren Radio drangen Nachrichten und Musik und hielten Grant auf dem Laufenden, was die Geschehnisse draußen in der Welt anging.
Die Erwähnung des Komitees für Ethik und ein Senator, der Grant immer zu satirischen Skizzen reizte, gaben ihm Ideen für neue Strips. In einigen Zeitungen wurden seine Arbeiten auf der Leitartikelseite platziert. Seine Kenntnisse von Politik und die Ähnlichkeit der Personen und Namen zusammen mit Pointen, die immer ins Schwarze trafen, erfreuten sich ungemeiner Beliebtheit.
Jetzt lehnte Grant an der Anrichte, kaute Plätzchen mit Erdnussbutter und lauschte dem Ende des Berichtes. Eine genaue Kenntnis der Trends, der Stimmungen und der Begebenheiten war ein ebenso unentbehrlicher Bestandteil seiner Kunst wie Tinte und Feder. Sein Gedächtnis ordnete und sammelte Nachrichten, um sie zu gegebener Zeit parat zu haben. Doch jetzt lockten frische Luft und Sonnenschein.
Natürlich würde er nicht etwa ausgehen wollen, beruhigte Grant sein Gewissen, um vielleicht Gennie zu treffen. Kein Gedanke! Aber Gennie war da. Er versuchte sich einzureden, dass er sich durch ihre Gegenwart belästigt fühlte. Jede Störung seiner Einsamkeit empfand er normalerweise als Hausfriedensbruch. Deshalb würde es wahrscheinlich das Beste sein, sie zu ignorieren.
Wie hübsch der Wind ihr Haar zur Seite strich und den schlanken Nacken freigab!
Gennies nackte Arme schimmerten wie mattes Gold! Wenn er ihr den Rücken zudrehen würde und auf die andere Seite der Klippen kletterte, könnte er vergessen, dass es sie überhaupt gab.
Grant fluchte leise und ging auf Gennie zu. Natürlich hatte sie ihn schon gesehen, als er den ersten Schritt vor seine Tür setzte. Ihr Pinsel hatte jedoch nur eine Sekunde lang gezögert, dann fuhr sie unbeirrt mit ihrer Arbeit fort. Ihr beschleunigter Puls deutete bestimmt nur auf das nächste Gefecht hin, welches sie diesmal gewinnen würde.
Allerdings fiel es ihr plötzlich schwer, sich zu konzentrieren. Deshalb klopfte sie mit dem Pinselstiel nachdenklich gegen ihre Lippen und betrachtete kritisch, was sie in den vergangenen Stunden gemalt hatte.
Zufriedenstellend, fand sie. Die Umrisse auf der Leinwand zeigten deutlich, worauf sie hinauswollte. Das Farbengemisch schien vorzüglich gelungen. Leise summte sie eine Melodie, als Grant näher kam.
»So«, sagte Gennie und neigte den Kopf, um ihre Staffelei aus einem anderen Winkel zu betrachten, »Sie haben sich also entschlossen, aus Ihrer Höhle herauszukommen.«
Grant schob die Fäuste in die Hosentaschen und blieb bewusst an einer Stelle stehen, die ihm keinen Blick auf Gennies
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