Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
vielleicht eine gewisse Verlegenheit wegen seiner reichen Tafel empfand, während so viele französische Bauern auf dem Lande verhungerten; aber Schuldgefühle lagen wohl kaum in der Natur dieses Mannes. Komplimente wird er jedoch haben wollen. »Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft«, sagte er, und die Worte schmeckten bitter auf seiner Zunge.
»Seit meiner Zeit an Edwards Hof habe ich so ein Mahl nicht mehr genossen.«
»Ich fühle mich sehr geschmeichelt, Arzt, denn Edward ist ein berühmter Gastgeber.« Dann zog er eine Augenbraue hoch: »Aber Ihr hättet Euch doch gewiß leisten können, angenehm zu leben.«
Da Ihr jetzt im Besitz meiner Reichtümer seid, kann ich es vielleicht nie mehr, Ihr dafür aber ganz bestimmt. »Es war keine Frage der Kosten«, erklärte der Jude. »Ich wollte nicht durch prahlerisches Benehmen Aufmerksamkeit erregen.«
»Gut zu essen kann wohl kaum als prahlerisch betrachtet werden. Vergeßt nicht, daß Ihr in Frankreich seid. Hier ißt jeder so erlesen wie möglich. Einige natürlich besser als andere!«
Alejandro fragte sich, ob de Chauliac irgendeine Vorstellung von der Hungersnot in den Provinzen Frankreichs hatte. Zorn auf diesen gewissenlosen Privilegierten stieg in ihm auf – aber durch irgendein Wunder gelang es seinem Willen, ihn zu unterdrücken. Äußerlich blieb er ruhig, obwohl in seinem Inneren Aufruhr und Nöte tobten. Er konnte an nichts anderes denken als an Flucht und ein Wiedersehen mit Kate. Auch wenn er dabei seines Goldes verlustig ginge, sollte es eben so sein. Dennoch würde er überleben.
Doch was war mit Abrahams Buch? De Chauliac wußte dessen Wert bestimmt zu schätzen und behandelte es entsprechend ehrfürchtig, doch im Besitz des Franzosen würde seine kritische Botschaft die, an die sie gerichtet war, nicht erreichen.
Vielleicht gibt er es zurück …
Nein, es wäre lächerlich, darum zu bitten. De Chauliac würde niemals einwilligen.
Doch er kann seine Geheimnisse ohne Hilfe eines Juden nicht entschlüsseln. Und ich bin der einzige Jude, den er hat.
Wieder argumentierte er mit sich selbst, und das in Gesellschaft eines anderen menschlichen Wesens – auf diese Weise kam er natürlich nicht weit …
»Die Handschrift, die ich mitbrachte …«, begann er, umständlich.
»Ach ja«, sagte de Chauliac. Erwartungsvoll lehnte er sich zurück und wartete darauf, daß Alejandro fortfuhr.
»Sie ist für mich von einigem Wert.«
»Ein schönes Buch, das will ich zugeben.« De Chauliac setzte eine neugierige Miene auf. »Aber es scheint nicht wertvoller zu sein als irgendein anderes. Worin liegt seine Bedeutung?«
Wieder spielte de Chauliac mit ihm: Es war schon genügend Text übersetzt, um ihm die Natur seiner Geheimnisse zu enthüllen.
Aber er will es mich sagen hören. »Es enthält Botschaften der Weisheit für mein Volk.«
»Botschaften von Eurem Gott?«
»Nein.«
De Chauliacs Fragen bekamen plötzlich den Ton eines Verhörs.
»Von wem dann?«
Alejandro schwieg.
» Von wem, frage ich noch einmal.«
»Das weiß ich nicht!« Der Gefangene schrie beinahe. »Es steht nur der Name Abraham darin und daß er ein Priester und Levite gewesen sei.«
»Auf diesen Seiten befinden sich alchimistische Symbole, Kollege. Ist dieser Abraham jemand, der diese Kunst praktiziert?«
»Ich habe noch nicht genug von dem Text entziffert, um das beantworten zu können.«
De Chauliac schwieg eine Weile und dachte nach. Alejandro beobachtete, daß der elegante Franzose reglos auf seinem geschnitzten Stuhl saß, gedankenverloren in die Ferne schaute und die Anwesenheit seines ›Gastes‹ scheinbar vergessen hatte.
Dann erhob sich der Ältere von seinem Stuhl und fing an, den Raum zu durchmessen. Er schwieg immer noch, offenbar mit sich selbst beschäftigt. Endlich schaute er in Alejandros Richtung und sagte: »Morgen werde ich ein paar Gäste zum Diner einladen. Darunter wird auch ein Mann sein, der mit dem Handwerk der Alchimie vertraut ist.«
Alejandro warf de Chauliac einen frostigen Blick zu. Morgen? dachte er. Nein, nicht morgen, denn morgen werde ich fort sein, selbst wenn es mich ein gebrochenes Bein kostet. »Wie Ihr wünscht«, sagte er mit einem feierlichen Nicken. »Ich freue mich darauf.«
Nachdem ihn in dieser Nacht zwei andere Wachen in seine Kammer zurückgeführt hatten, sah Alejandro erschrocken, daß nun ein Holzgitter das Fenster versperrte. Die Arbeit war hastig und nicht allzu sorgfältig ausgeführt, und der Zimmermann hatte
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