Bereue - Psychothriller (German Edition)
Gedanken, dass sie in seiner Gewalt war. Sie war ihm ausgeliefert. Würde er nicht mehr dorthin zurückkehren, würde sie sterben. Einfach so. Niemals hätte er erwartet, was allein diese Vorstellung in ihm auslöste.
“Du musst da abbiegen”, kam es vom Beifahrersitz.
Brav setzte er fünfzig Meter vor der Kreuzung den Blinker. Siebzehn Minuten später parkte er vor dem Haus. Graue Wolken ballten sich am Himmel zusammen. Bald würde es regnen.
Er sprang aus dem Wagen und half Mutter beim Aussteigen.
Keuchend hievte sie sich auf die Füße. “Dieses schreckliche Auto. Da sitzt man ja auf dem Boden.”
Schweigend folgte er Mutter im Zeitlupentempo zur Haustür. Seine Kopfhaut kribbelte. Er kratzte. An der Tür riss er die Hand aus den Haaren und öffnete ihr.
Sie walzte auf den Aufzug zu und presste ihren fetten Finger auf den Knopf. Bis der Lift angerumpelt kam, wäre er schon fünf Mal hi naufgelaufen. Ungeduldig quetschte er sich neben ihr in die enge Kabine. Umhüllt von ihrem Geruch bemühte er sich um eine flache Atmung, bis die Türen im zweiten Stock aufsurrten.
Im Wohnzimmer ließ sie sich in ihren Sessel fallen. “Ich verzichte heute auf das Abendessen, mir ist der Appetit vergangen. Mach dir was, wenn du Hunger hast.” Sie schnappte sich die Fernbedienung. Der Ernährungsplan verschwand unter der Fernsehzeitung.
Hunger. So banale Sachen interessierten ihn im Moment nicht. Aber Annelie musste Hunger haben. Er musste ihr etwas bringen.
Er ging in sein Zimmer und griff nach dem Handy. Ben Biller war gerade im Westend unterwegs. Was machte er dort, fragte er sich. Egal. Er lebte noch.
Das Handy verschwand in seiner Hosentasche. Auf Socken schlich er den Flur entlang zur Wohnungstür. Er hatte die Klinke in der Hand, da rief Mutter. “Jakob!”
Sein Kopf sank herab. Er trottete ins Wohnzimmer.
Der Fernseher warf harte Schatten auf ihrem Gesicht. “Wo gehst du hin?”
“Essen holen”, murmelte er. Das war nicht gelogen. Er brauchte etwas für Annelie.
“Halt dich fern von diesen Mädchen, hörst du!”
Er nickte. Es gab nur ein Mädchen. Und sie war keins von diesen Mädchen.
“Wenn du diese unreinen Gedanken hast, weißt du, was du zu tun hast.”
Wieder nickte er und drehte sich um.
Doch sie war noch nicht fertig. “Such dir endlich eine aus der Gemeinde. Es wird Zeit.” Sie musterte ihn von der Stirn bis zur Kniehöhe und zurück. “Du wirst auch nicht jünger.” Sie gab ein Bellen von sich. Lachte sie?
In der Gemeinde der Kinder der Jungfrau Maria gab es nicht viele Frauen in seinem Alter. Er kannte sie seit Jahren aus den Mariengebeten. Keine von ihnen konnte etwas in ihm auslösen.
Er beobachtete die auf Mutters Gesicht umherspringenden Schatten, die die wechselnden Fernsehbilder warfen. Sein Mund klappte auf, doch es kam kein Ton heraus.
Ihre Augen funkelten. “Das hat sogar dein Vater geschafft.”
Warum nur musste sie immer auf Vater herumhacken. Er war ein so guter Mensch gewesen. Ein stiller Mann, der nur wegen ihr der Gemeinde beigetreten war. Alles hatte er versucht, um sie glücklich zu machen. Und für seinen Sohn war er immer da gewesen. Hatte ihn mitgenommen in die Metzgerei, in der er arbeitete. Jakob hörte noch das Brüllen der Kühe, sah ihre weit aufgerissenen Augen. An schönen Herbsttagen war er mit ihm in den Wald gefahren. Sie hatten sich in einen Jägerstand gesetzt. Stundenlang hatten sie einträchtig geschwiegen, bis das Wild gekommen war. Mutter hatte dafür nichts übrig gehabt. Wie für alles andere, was Vater interessiert hatte.
Den Kopf gesenkt wandte er sich ab. Er war schon im Flur, als er noch einmal Mutters Stimme hörte. “Heilige Maria Mutter Gottes. Was habe ich getan, dass du mich mit so einem Kind strafst.”
Mit einer Pizza Margherita und dem Abschleppseil aus dem Kofferraum kehrte er in die alte Metzgerei zurück. Inzwischen war es dunkel. Von draußen fiel kein Licht in das Schlachthaus. Er zündete die Petroleumlampe an, die neben der Tür stand und stieg die Stufen zum Schlachthaus hinab.
40
Fröstelnd zerrte sie an den Ärmeln ihres T-Shirts. Nichts half gegen die Kälte die aus der Luft, aus dem Boden, aus den Wänden auf sie zu kroch.
Die Nacht kam schleichend. Noch hoben sich die Haken dunkel von den hellen Kacheln ab. Das war das Letzte, was sie sah, bevor auch das restliche Licht schwand.
Innerhalb weniger Minuten war es so dunkel wie auf dem Grund des Ozeans, dort, wo nie ein Lichtstrahl hinab dringt. Die
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