Bergwasser: Ein Schweiz-Krimi (German Edition)
ging in den Trakt D und stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock. Ihre Zimmertür war angelehnt. Hatte sie die heute Morgen nicht geschlossen? Sie stieß sie auf und blieb stehen. Blickte sich um. Alles war so, wie sie es am Morgen zurückgelassen hatte. Nur der Tisch. Da lag etwas. Sie ging näher. Stutzte. War das nicht …?
Auf dem Tisch lag ein Hirschkäfer. Zwischen seinen Zangen steckte ein Zettel. Sie streckte die Hand aus, griff mit spitzen Fingern nach dem Papier, zog daran und schrie auf. Der Käfer hatte sich am Papier festgehakt. Sie ließ den Zettel los, er fiel samt Käfer zu Boden. Dann nahm sie einen Bleistift und stupste ihn an. Keine Reaktion. Sie hielt mit dem Stift die Zangen fest und zog den Zettel heraus.
FRAUEN HABEN IM TUNNEL NICHTS ZU SUCHEN
stand da in krakeliger Schrift in Großbuchstaben. Es sah aus wie Kinderschrift. Oder hatte jemand die linke Hand benutzt, um seine Schrift zu verstellen?
Julia öffnete das Fenster, fädelte den Stift zwischen die Zangen und warf den Käfer auf die Wiese.
Sie ließ sich erschöpft aufs Bett fallen. War das heute nicht schon genug? Musste sich jetzt noch einer blöde Scherze erlauben? Den Spruch konnte sie langsam nicht mehr hören. Die Frau als Tunnelheilige und gleichzeitig als Unglücksbringerin? So ein Schwachsinn!
Gerne hätte sie Jan angerufen. Doch sie befürchtete, er würde wieder nicht abnehmen. Es würde ins Leere klingeln, und diese Leere hätte sie jetzt nicht ertragen.
Morgen würde sie abreisen. Sie freute sich auf Freiburg, auf ihre Wohnung. Mit oder ohne Jan.
Sie nahm ihren Laptop hervor und tippte den Bericht für ihre Firma. Als sie auf die Uhr oben rechts am Computerbildschirm schaute, war es bereits einundzwanzig Uhr. Mist. Eigentlich hätte sie, bevor die zweite Schicht aus dem Tunnel kam, essen wollen. Dann wäre da nicht so ein Gedränge gewesen. Aber jetzt war es zu spät. Die Kantine war sicher voll. In der Stüva essen wollte sie aber trotzdem nicht.
Maria saß ganz hinten und winkte ihr zu.
»Musst du nicht arbeiten?«, fragte sie Maria.
»Nein, ich bin vorhin nur kurz eingesprungen. Komm, setz dich.«
Auf ihrem Teller türmte sich ein Berg Kartoffelpüree und Gulasch. Sie stopfte eine Gabel voll in den Mund. »Den Kartoffelpüree kann ich dir sehr empfehlen. Auch wenn ich ihn nicht selber gemacht habe.« Sie lachte.
Julia blickte zur Warteschlange vor dem Büfett mit den Behältern. »Ist nicht gerade motivierend.«
»Es geht schnell. Die meisten lassen dich sowieso vor. Das ist der Vorteil der Frauen.«
Julia dachte an den Zettel in ihrem Zimmer. So konnte man es auch sehen.
Kaum hatte Julia die Schlange erreicht, winkte sie Sandro, der weiter vorne stand, zu sich und deutete an, sie solle sich vor ihn hinstellen. Fragend schaute sie den Rest der Reihe an, doch sie bekam nur aufmunternde Blicke. Sie ging zu Sandro und reihte sich vor ihm in die Schlange ein. Er schloss ziemlich nahe auf. Sie beugte sich vor, um an einen der Teller zu kommen. Als sie sich wieder aufrichtete, spürte sie Sandro hinter sich. Sie drehte sich ruckartig um. Sandro hob entwaffnend die Hände in die Höhe und trat einen Schritt zurück. Julia schöpfte Kartoffelpüree und Gulasch, das Gemüse, das etwas schlaff aussah, ließ sie weg. Sie griff nach einem Glas, berührte dabei leicht Sandros Hand. Sie zuckte zurück.
Maria zog die Augenbrauen in die Höhe, als sie wieder an den Tisch kam. Sie musste Julia beobachtet haben. »Nimm dich vor dem bloß in Acht.« Sie schaute zu Sandro hinüber, der an einem Tisch beim Eingang saß. »Sieht gut aus, aber das ist auch schon alles.«
Ob sie wohl aus eigener Erfahrung sprach, fragte sich Julia. Doch sie behielt die Frage für sich.
»Glaubst du’s immer noch nicht?«, platzte Maria heraus, nachdem sie zwei Kaffee geholt hatte.
»Was glaube ich immer noch nicht?«
»Dass Antonio keinen Unfall hatte.«
»Bitte, Maria, jetzt fang nicht wieder damit an. Mir wird das zu viel.«
Sandro starrte Julia die ganze Zeit über an.
»Da hängt ein Fluch über diesem Tunnel«, sagte Maria bedeutungsvoll.
»Was für ein Fluch?«
Sandro deutete mit dem Kopf zur Tür. Was wollte er bloß?
»Keine Ahnung, aber anders ist das nicht zu erklären.«
»Du hast Ideen!«
Jetzt machte Sandro mit dem Zeige- und Mittelfinger Gehbewegungen, was wohl heißen sollte, sie solle mitkommen. Julia tippte mit dem Zeigefinger an die Schläfe.
»Das kann nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Und die Barbara
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