Bergwasser: Ein Schweiz-Krimi (German Edition)
ist auch verschwunden. Das ist ein Zeichen.«
Sandro hielt die Hand an sein Herz. Julia musste lachen. Dann wurde sie wieder ernst. »Ein Zeichen wofür?«
Maria dachte lange nach. »Keine Ahnung. – Aber es war kein Unfall.«
»Maria, die Menschen machen Fehler. Gerade wenn jemand müde ist, überhitzt von der Temperatur im Berg, der Stress. Das kann doch passieren.«
Maria schaute sie böse an.
»Klar ist das schrecklich«, fuhr Julia fort. »Und es tut mir auch sehr leid wegen Antonio.«
»Was macht das denn für einen Sinn? Wenn Gott so etwas zulässt, dann …«, sagte Maria.
»Es macht keinen. Das ist die falsche Frage! So kommst du nicht weiter.«
»Wenn wenigstens der Berg heruntergekommen wäre.« Tränen liefen über Marias Wangen. »Oder es eine Explosion gegeben hätte. Aber einfach so? Von einem Zug überrollt? Etwas, das überall passieren könnte? Dazu ist kein Tunnel nötig.« Ihr Kinn zitterte, sie verzerrte das Gesicht, lehnte den Kopf an Julias Schulter und weinte in ihr T -Shirt.
Julia strich ihr über die Haare, nahm sie in den Arm, versuchte sie zu beruhigen. Wiegte sie leicht hin und her.
Im Saal war es still geworden. Die Männer schauten betroffen zu ihrem Tisch. Nach ein paar Minuten hatte Maria sich etwas beruhigt. Ihr Gesicht war rot verquollen. Sie stand auf und ging zu dem Schrein, zündete eine Kerze an und stellte sie neben Antonios Foto. Er lachte in die Kamera. Doch sein Blick hatte zugleich etwas Ernstes. Ob er wohl geahnt hatte, dass dieses Bild einmal neben der heiligen Barbara stehen würde?
Julia schaute in die Runde. Die Männer waren wieder mit sich beschäftigt. Sie blickte zu Sandros Tisch. Sein Stuhl war leer.
Datum: Mittwoch, 11. Juli 2012 21:04
Betreff: AW: AW: AW: Es tut mir leid
Liebster,
Elena ist immer noch nicht aufgetaucht. Was soll ich denn nur machen?
Zur Polizei gehen kann ich nicht. Ich wollte es Dir eigentlich schon lange sagen, aber ich arbeite nicht wirklich im Service. Ja, eigentlich schon, aber etwas anders. In den Klub, in dem ich arbeite, kommen eigentlich nur Männer. Und wir müssen nett zu ihnen sein und etwas trinken. Aber das ist auch schon alles. Ich schwör’s!
Deine J.
Julia setzte sich aufs Bett. Ohne nachzudenken, wählte sie Jans Nummer. Doch es meldete sich niemand.
Sie hätte gerne mit ihm gesprochen. Sie dachte an Maria, ihre Verzweiflung, ihr Hadern mit Gott, der so etwas zuließ, etwas, das sie nicht nachvollziehen konnte. Offenbar könnte sie besser mit Antonios Tod umgehen, wenn jemand oder etwas dafür verantwortlich wäre. Aber Dinge passierten. Es gab kein großes Muster dahinter, keinen Plan. Jemand war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.
Julia hatte wieder Kopfschmerzen. Sie löschte das Licht und setzte sich im Schneidersitz aufs Bett, rieb sich die Augen.
Morgen würde sie abreisen. Auch wenn es ihr leidtat wegen Maria. Aber schließlich konnte sie ihr nicht helfen.
Sie schaute aus dem Fenster, ein paar Sterne waren am Himmel zu sehen. Am Hang standen schwere schwarze Tannen. Die unteren Äste wirkten wie dicke Röcke. Julia fühlte sich leer. Ein Ast bewegte sich. Sie stand auf und trat ans Fenster. Es war schwer, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Vielleicht ein Vogel, der aufgeflogen war. Sie hielt inne, traute sich beinahe nicht zu atmen. War das eine Gestalt, die sich vom dunklen Umriss der Tanne löste?
Schnell trat sie vom Fenster weg, presste ihren Körper an die Wand. War da draußen jemand? Plötzlich musste sie lachen. Vielleicht war es einer der Arbeiter, der seine Notdurft lieber im Wald verrichtete. Sie ging zum Lichtschalter und wollte ihn gerade betätigen, da hörte sie Schritte. Jemand kam die Treppe herauf. Sie hielt inne. Lauschte. Jetzt waren die Schritte auf dem Flur zu hören. Sie kamen näher, dann blieb jemand stehen, direkt vor Julias Tür. Die Klinke wurde langsam hinuntergedrückt, die Tür öffnete sich beinahe geräuschlos. Sie sah die Umrisse eines Kopfes, tastete nach dem Lichtschalter, schrie auf. Da war bereits eine Hand auf dem Schalter. Das Licht ging an. Sandro stand vor ihr.
»Hast du sie noch alle!«, schrie sie ihn an.
Er hielt ihr die Hand auf den Mund, schloss mit der anderen die Tür und drückte sie an die Wand. Er küsste sie, auf den Hals, auf den Mund, seine Hand fuhr unter ihr T -Shirt. Er roch nach Tunnelstaub. Sie wollte sich wehren, doch sie spürte seine starken Oberarme, seine Wärme. Er trat etwas
Weitere Kostenlose Bücher