Berndorf 07 - Trotzkis Narr
erhältlichen genetischen Informationen nachgebildet wird, so erreicht man zwar eine sehr große Ähnlichkeit, aber eben nur Ähnlichkeit. Um Ausstrahlung oder Persönlichkeit darzustellen, müsste der Kriminaltechniker ein Künstler sein, und die haben im Polizeidienst nichts zu suchen. Und für den Polizeidienst genügt, dass ein Phantombild ein ungefähres Aussehen zeigt, gerade so genau, dass einer sagt, ach schau mal, der sieht doch aus wie der und der …!
Aber selbst diese ungefähre Ähnlichkeit ist schwer genug zu treffen. Wilfried Broch, Kriminaltechniker der Berliner Polizei, hat seine Erfahrungen damit. An diesem Samstagvormittag zum Beispiel hatte er mit zwei Beamten aus der Senatsverwaltung zu tun gehabt, die sich nicht erinnerten und sich nicht anstrengen wollten und sich widersprachen, der hatte doch eine Kapuzenmütze übergezogen, sagte der eine, nein, eine Pudelmütze, behauptete der andere, so ein breitflächiges Gesicht hatte der, ach was, eine vorspringende Hakennase!
»Er trug ein Stirnband«, sagt der junge breitschultrige Mann, der Broch jetzt gegenübersitzt, »und eine Lederjacke, und aufgefallen ist er mir, weil er sich an der Ecke beim Fahrradständer herumdrückte.« Der junge Mann studiert Maschinenbau und hatte am Vorabend zusammen mit einem Freund im Hallenbad trainiert. »Als wir herauskamen, stand er da und rauchte eine Zigarette, die warf er dann weg und beugte sich über sein Rad, als ob an der Kette was wär. Was tut der da?, hab ich mir gedacht.«
»Im Bad war er nicht gewesen?«
»Nein. Vielleicht kam er mir auch deswegen so komisch vor.«
»Wie gut haben Sie sein Gesicht gesehen?«
»Nicht so besonders. Bevor er die Zigarette wegwarf, muss er noch einmal daran gezogen haben, und sie leuchtete auf. Da sah man was von seinem Gesicht …«
Und so machen sich Broch und der Student daran, auf Brochs Bildschirm ein Gesicht zusammenzusetzen, das einmal kurz im Widerschein einer aufglimmenden Zigarette zu erkennen war. Oval? Ja doch, aber was heißt das schon, die meisten jungen Männer haben ovale Gesichter, solange sie nicht vom Bier aufgeschwemmt sind. Rasiert, jedenfalls kein Drei-Tage-Bart, das Haar – vermutlich – kurz geschnitten, jedenfalls keine Haarmähne, die über dem Stirnband hochsteht. Weder das Kinn noch der Mund besonders ausgeprägt, die Nase gerade, auch die Wangenpartie nicht besonders hervorgehoben – ein Allerweltsgesicht also?
»Nein, eben nicht«, sagt der Student, »um die Augen war etwas, die müssen enger stehen …«
Wilfried Broch ist schon seit Jahren in diesem nüchternen Geschäft, in dem man gleichwohl von Zeit zu Zeit eine Eingebung braucht. »Einen Augenblick«, sagt er und beginnt, in seinem Archiv nachzusehen. Drei oder vier Jahre? Er kann sich an den Namen nicht erinnern, aber an das Stichwort, das für die Bilddatei gespeichert ist, und dann hat er es schon auf seinem Laptop. Bevor er das Phantombild von damals auf den großen Bildschirm überspielt, verdeckt er Namen und Daten.
»Das ist der Kerl«, ruft der Student.
Broch erlaubt sich ein kleines, bescheidenes Lächeln. Dann greift er zum Telefon und wählt.
M eunier & Kadritzke haben ihren Firmensitz in einem schmalen Altbau, dessen Unauffälligkeit nicht einmal durch ein Firmenschild beeinträchtigt wird. Der Firmenname findet sich auf dem Klingelbrett, mehr scheint den Inhabern nicht geboten. Dem einen oder anderen wird vielleicht die Überwachungskamera auffallen, die von oben auf den Eingangsbereich gerichtet ist. Aber wer den Blick für so etwas hat, der wird auch nicht weiter davon überrascht sein. Nicht bei Meunier & Kadritzke.
Weiter oberhalb müht sich jemand, seinen Daimler auszuparken, als er es endlich geschafft hat, witscht ein kleines rotes Auto in die Lücke und erobert sie sich. Eine Frau steigt aus, falls jemand zusehen sollte, würde er sich wundern, wie lang die Beine sein können, die sich aus einem so kleinen Auto entwirren. Die Beine stecken in Jeans und gehören einer Frau mit einer langen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen kastanienbraunen Haarmähne. Kastanienbraun? Wer genauer hinschaut, wird sehen, dass sich da auch schon graue Haare darunter finden. Die Frau – es ist die Privatdetektivin Tamar Wegenast – geht zum Parkautomaten und zieht ein Ticket, dann kehrt sie zu ihrem Auto zurück, setzt sich hinter das Steuer und verstellt den rechten Seitenspiegel ein wenig. Schließlich nimmt sie sich einen Band mit einer Übersetzung japanischer
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