Beseelt
Felsen und der stärker werdende Wind unterdrückten den Lärm ihrer Hufe, als sie um die scharfe Kante bog. Ihre Augen suchten rastlos den gefährlichen Boden vor ihr und die glatten Felswände ab. Nirgendwo war eine Spur des Jungen zu sehen.
„Liam!“, rief sie. Ihre Stimme hallte gruselig von den Wänden und kam wie eine halb vergessene Erinnerung zu ihr zurück.
Bei der Göttin! Sie hatte ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Niemals hätte sie dem Kind erlauben dürfen, sich vom Rest der Gruppe zu entfernen. Sie und Cuchulainn hatten immer wieder betont, wie wichtig es war, zusammenzubleiben. Wer wusste denn, welche verborgenen Gefahren in den Bergen lauerten? Und dann waren da der Falke und diese Stimme, die sie gewarnt und ihr gesagt hatte, dass Liam ihre Hilfe benötigte. Was beim silbernen Brustpanzer der Göttin hatte das zu bedeuten?
Wo war nur der Junge? Wie weit war er vorausgegangen? Sie hatte nicht gewusst, dass er sich so schnell bewegen konnte. Brighid sprang über einen Haufen aus Steinen und Schutt, stolperte, fing sich aber noch gerade rechtzeitig. Die Zähne zusammengebissen und die von der Göttin verdammte Unebenheit des Pfades verfluchend beschleunigte sie ihre Schritte.
Erneut wand der Weg sich scharf nach rechts. Sie schlitterte um die Kurve und verlor fast das Gleichgewicht, da ihre Hufe keinen richtigen Halt auf dem glatten Schiefer fanden. Der Pass wurde breiter. Hier hätten mehrere Zentauren nebeneinander gehen können. Graue Findlinge lagen verstreut herum, sodass sie langsamer werden musste, um sich einen Weg zwischen ihnen zu suchen.
Sie spürte es. Jemand beobachtete sie. Instinktiv hob sie den Bogen und schaute sich suchend um. Erleichterung erfasste sie, als sie die unverkennbare Form von Liams kleinem Kopf und die Spitzen seiner Flügel sah, die über den Rand der Schlucht hinausragten. Als er sah, dass sie zu ihm hinaufschaute, winkte der Junge ihr fröhlich zu. Brighid seufzte und senkte den Bogen. Liam war zu weit weg, um sie hören zu können, also hob sie nur einen Arm und bedeutete ihm, zu ihr zu kommen.
Was hatte der verdammte Vogel für ein Problem gehabt? Liam ging es gut. Oder war die Stimme gar nicht vom Falken gekommen? Sie schaute misstrauisch den Pass entlang. Wer wusste schon, was alles in diesen Bergen lauerte? Ciara hatte etwas gespürt, das sie unruhig gemacht hatte. Vielleicht gingen die rastlosen Seelen ihres Volkes hier um? Die hätten vermutlich Spaß daran, ein wenig Ärger zu stiften. Der türkisblaue Stein lag schwer an ihrer Brust. Bildete sie sich seine Wärme nur ein?
Sie schob ihre verwirrenden Gedanken beiseite. Später, wenn die Kinder sicher in der MacCallan-Burg angekommen wären, würde sie ausreichend Zeit haben, um über die merkwürdigen Geschehnisse dieses Tages nachzudenken und über die Einblicke in das Reich der Spiritualität, die ihr während dieser Reise nur allzu oft gewährt worden waren.
Ein Geschenk …
Brighid zuckte zusammen, als wäre ein weiterer Stein vom Himmel gefallen. Sie hielt die Luft an, als ihr die Erkenntnis kam. Ciara hatte ihr gesagt, sie solle vorsichtig sein mit dem, was sie von den Geistern erbat … Der blaugrüne Stein lag warm an ihrer Brust und schickte ihr einen Erkenntnisblitz.
Er war ein Seelenfänger, überbracht von ihrem spirituellen Führer. Bei dem Gedanken wurde ihr schwindelig.
Später. Sie schüttelte sich und schaute an der grauen Wand hinauf, um nach Liam zu sehen, der sich in den dunklen Schatten bewegte. Für den Moment würde sie die wilden Ziegen vergessen und erst einmal den Jungen zum Rest der Gruppe zurückbringen. Es war schon spät; wahrscheinlich waren ihre und Liams Abwesenheit bereits entdeckt worden. Man würde sich sicher Sorgen machen. Brighid verzog das Gesicht, als sie sich Cuchulainns Reaktion ausmalte, wenn sie mit Liam zurückkehrte, der übersprudelnd davon berichtete, dass er nun ihr Lehrling war und ihr bei der Jagd geholfen hatte.
Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete sie die Bewegungen am Rand des Abgrunds. Liam war mit einem Mal zu sehen. Seine geflügelte Silhouette hob sich klar gegen den dunkelgrauen Himmel ab, während er zu ihr herunterkletterte.
Brighid öffnete den Mund, um ihm zuzurufen, vorsichtig zu sein, obwohl es offensichtlich war, dass der Junge klettern konnte wie eine der verdammten Bergziegen, aber sie hatte keine Chance mehr, die Worte auszusprechen.
Mit einem Mal explodierte die Gewalt.
Sie hörte das vertraute Sirren eines
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