Bevor der Tod euch scheidet (German Edition)
das Schloss zu knacken. In der Galerie war es mittlerweile viel düsterer, sodass sich immerhin ihr Porträt in den Schatten verlor.
Zehn Minuten später gab das Schloss endlich nach.
Francesca, die mittlerweile ihre Schuhe wieder angezogen hatte, stürmte nach draußen. „Ich danke Ihnen vielmals!“
„Ist alles in Ordnung, Miss?“, fragte der uniformierte Polizist, der ihr zerzaustes Erscheinungsbild aufmerksam betrachtete.
Sie konnte sich gut vorstellen, welchen Eindruck sie im Moment machte, nickte nur und wollte an ihm vorbeieilen. „Ich bin spät dran“, sagte sie, doch er versperrte ihr den Weg.
„Sind Sie eine Bekannte von Mr Moore?“, fragte der Polizist argwöhnisch, während er die Tür zuzog.
Oh Gott, er hielt sie für eine Einbrecherin oder eine Diebin! „Nein, bin ich nicht. Sir, heute findet meine Hochzeit statt.“ Vor Verlegenheit lief sie rot an. „Genau genommen hätte die vor fast einer Stunde stattfinden sollen. Ich muss jetzt los!“ Sicher würde Hart Verständnis für sie haben und in der Kirche auf sie warten, bis sie eintraf.
„Die Galerie ist geschlossen. Das steht dort auf diesem Schild. Bedaure, aber ich muss Sie zur Wache bringen, Miss. Sie stehen unter dem Verdacht, einen Einbruch begangen zu haben.“
„Ich wurde hierher eingeladen!“, protestierte Francesca.
Als hätte er sie nicht gehört oder als sei er nicht an ihren Ausführungen interessiert, hielt der Polizist ihre Waffe hoch. „Gehört die Ihnen?“
Sie nickte. „Ja, das ist eindeutig meine.“ Aus ihrer Handtasche zog sie ihre Visitenkarte hervor und überreichte sie dem Mann. Darauf geschrieben stand:
Francesca Cahill
Detektivin für außergewöhnliche Fälle
No. 810 Fifth Avenue, New York City
Kein Verbrechen zu schwerwiegend oder zu unbedeutend
Als er die Zeilen las, wurden seine Augen rasch größer. „Ich bin Francesca Cahill, Sir“, betonte sie. „Sicher haben Sie schon von mir gehört. Ich arbeite eng mit dem Police Commissioner zusammen, der nebenbei auch noch ein persönlicher Freund ist.“
„Ja, ich habe von Ihnen gehört, Ma'am“, antwortete der Polizist in einem Tonfall, der mit einem Mal sehr respektvoll klang.
„Gut. In diesem Moment hält sich Rick Bragg in der Presbyterianerkirche an der Fifth Avenue auf und erwartet meine Ankunft – zusammen mit dreihundert weiteren Gästen.“ Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. „Und zusammen mit meinem Verlobten, Mr Calder Hart. Sein Name dürfte Ihnen sicherlich auch etwas sagen.“
„Hat man den nicht eingesperrt, weil er seine Geliebte umgebracht hat?“, warf der andere Mann ein, der den Polizisten geholt hatte.
„Er ist unschuldig!“, widersprach sie energisch. „Der Mörder hat ein Geständnis abgelegt und wartet jetzt auf sein Urteil! Und ich brauche jetzt eine Droschke!“
„Ich beschaffe Ihnen eine“, versicherte der Polizist ihr. „Tut mir leid, Miss Cahill, dass ich Sie zusätzlich aufgehalten habe, aber Sie müssen zugeben, dass es schon verdächtig war, sich in der geschlossenen Galerie aufzuhalten.“
„Dürfte ich meine Waffe haben?“ Er gab sie ihr, und sie stürmte die Treppe hoch. Noch nie hatte sie so dringend eine Droschke benötigt, und ausgerechnet jetzt war nirgends eine zu sehen. Hinter ihr legte der Polizist die Finger an den Mund und stieß einen durchdringenden Pfiff aus. Im nächsten Moment bog eine schwarze Kutsche vom Broadway kommend um die Ecke, gezogen von einem Wallach, der sich ihr zügig näherte. Erleichtert atmete Francesca auf.
Vierzig Minuten später kamen die hohen Kirchtürme in Sichtweite, und Francesca lehnte sich nach vorn, während sie ein Stoßgebet zum Himmel schickte. Aber die Straße vor der Kirche war verlassen, nicht eine einzige Kutsche stand vor dem Gebäude.
Francesca musste nicht erst noch in die Kirche gehen. Sie wusste auch so, dass alle längst gegangen waren.
VIER
Samstag, 28. Juni 1902
18 Uhr
Evan Cahill schloss die Tür zum Schlafzimmer seiner Schwester, Rick Bragg stand neben ihm im Korridor. Sie hatten den Raum und das angrenzende Bad soeben gründlich durchsucht. Doch von der Nachricht, die Francesca am Vormittag zugestellt worden war, gab es keine Spur.
Evan bewunderte seine jüngste Schwester, aber er kannte sie auch besser als jeder andere. Wenn es jemanden gab, der irgendeinem armen Tropf half und dafür die eigene Hochzeit versäumte, dann war es Francesca. Zwar hatte er größten Respekt vor ihrer Großzügigkeit, ihrer
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