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Bilder von A.

Titel: Bilder von A. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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nicht lösen konnte, weil wir uns offensichtlich überhaupt nicht voneinander lösen konnten, weiß der Himmel, warum. So resignierten wir schließlich in der fatalen Erkenntnis, daß es ja auch für so viele andere Probleme im Leben keine Lösung gibt, und räsonierten, es sei doch geradezu ein Lebensgesetz »an sich«, daß alle Probleme wie beim Kasperltheater immer wieder, nur mit anderen Köpfen, irgendwoher auftauchten, um sich über uns lustig zu machen.

 
    A.s Ausreise in den Westen war nur der Anfang der großen Ausreisewelle, die dann folgte. Es war die Zeit, in der man sich jeden Tag fragte, bleibst du oder gehst du, und wenn du nicht sofort gehst, wann gehst du dann. Jeden Tag hörte man die Namen von Freunden, Bekannten und Unbekannten, die den Weg ins Freie, ins Weite, wie alle glaubten, ohne Wiederkehr angetreten hatten. Jeden Tag gab es neue Abschiede und neue Trennungen und Tränen, jeder Tag riß neue Wunden. Damals kam der Spruch auf, der letzte macht das Licht aus.
    So saß auch ich, während A. schon in allen möglichen Hauptstädten Westeuropas inszenierte, in meiner Wohnung in der Arthur-Becker-Straße und wußte nicht, wohin mit mir und was tun, und schrieb und malte ohne größere Hoffnung als auf Erlösung. Aus Trotz, aus Unvernunft, aus Einsamkeit fing ich an, etwas ganz anderes zu erkunden, nicht das Weite, sondern etwas Nahes, das in mir selbst lag, mir schon lange zugehörte, obwohl es so wenig benannt war, und dessen Namen und Gestalt ich nun suchen wollte.
    Zunächst nur gelegentlich, dann häufiger und schließlich regelmäßig ging ich in die Jüdische Gemeinde und schloß mich einer kleinen Gruppe von jüngeren Leuten an, die sich auf die Suche nach einem Sinn ihres ererbten, immer nur imaginär gebliebenen, kaum eben benannten Judentums gemacht hatten. Kinder von Exilanten, Remigranten, Kommunisten, so wie ich, brachen auf, sich diesem ihnen ständig sichtbaren Planeten zu nähern, ihn zu erforschen und, wer weiß, zu betreten und in Besitz zu nehmen. In der Jüdischen Gemeinde konnte man wenigstens offen über diesen Planeten reden; wir beschlossen sogar, Hebräisch zu lernen und Leute aus der Gemeinde einzuladen, die uns in die »verborgenen« Feste und Texte des Judentums einführten, und kamen uns dabei vor wie Marranen.
    Alle aus unserer kleinen Schar, Urs, Werner, Sascha, Gitta und ich, hatten Verwandte in Israel, und meistens war das Bewußtsein unseres Judentums hauptsächlich durch diese Tanten und Onkel, sozusagen hinter dem Rücken unserer Eltern, wachgehalten und unterstützt worden. Wenn diese Onkel und Tanten pünktlich jedes Jahr im Herbst Karten zum jüdischen Neujahrsfest schickten, hatten sie uns damit immerhin Kunde von einer anderen Zeitrechnung, einem anderen Alphabet und einer anderen Sprache gegeben. Schana Towa! stand da. Schana heißt Jahr und tow heißt gut.
    A. berichtete ich in meinen Briefen vorsichtig davon und deutete die neue Wendung der Dinge nur an, meine Abzweigung auf einen anderen Weg, die Entdeckungund Erforschung des neuen Planeten. Ich erzählte dafür ausführlich von den originalen Psalmentexten, die schließlich unser geliebter Johann Sebastian Bach vertont hatte, und was die Worte nach ihren hebräischen Wurzeln bedeuten, wenn ich es selbst gerade gelernt hatte. Vorsichtig schrieb ich, weil ich nicht sicher war, wie A. das aufnehmen würde. Ich ahnte es aber.
    Noch immer lebte ich im Schatten unseres Abschieds, unserer nicht eingelösten Liebe, die sich weder in eine normale Freundschaft verwandeln noch einfach in Luft auflösen konnte, sondern als ein großer Anspruch aneinander bestehen blieb. Manchmal fand er interessant, was ich da berichtete, manchmal empfand er es als befremdend, und manchmal schrieb er rundheraus, er sehe das nur als eine Flucht an. Eine Flucht aus der Enge und Lügenhaftigkeit des »realen Sozialismus«, den wir ja alle nicht mehr ertragen konnten. Auch er habe ihn nicht mehr ertragen und sich deswegen nun in einem Nomadenleben zwischen allen nur möglichen Städten Europas eingerichtet, um sich von diesem oder jenem Theater für eine oder mehrere Inszenierungen engagieren zu lassen. Es fange allerdings schon an, ihn zu ermüden, dieses Westleben, schrieb er.
    Während um uns herum der Exodus Monat für Monat anschwoll, hielt unsere kleine Schar noch ein paar Jahre in Berlin durch, bevor wir alle einen Ausreiseantrag stellten, Urs, Werner, Sascha, Gitta nach Israel und ich nach Frankreich. Unsere Anträge wurden

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