Bis ans Ende des Horizonts
ihn am Ärmel. »Na ja, sie leben eben in der Vergangenheit.«
Er legte seine Hand auf ihre. »Da hast du wohl ganz recht, Herzchen. Was haben wir gerade für einen Monat? Es ist Mai, stimmt’s?«
Sie nickte.
»Und trotzdem ist nun Herbst, stimmt’s?«
»Morgen ist Winteranfang.«
»Und zu Hause ist Sommeranfang«, sagte er, ein wenig zitternd vor Kälte. »Glühwürmchen. Straßenumzüge. Draußen auf der Veranda schlafen, damit man einen frischen Lufthauch vom Fluss herauf spürt.«
Als Pearl elf Jahre alt war, war sie in Begleitung ihrer Mutter mit einer Mädchenkapelle auf einem Ozeandampfer nach Ceylon gefahren. Das war 1935, mitten in der Großen Depression. Ein Jahr lang lebte ihre Familie nur von dem Einkommen aus dieser Band. Auf dieser Reise hatte sie gelernt, dass die Welt in unterschiedliche Zeitzonen aufgeteilt war, aber sie hatte nie darüber nachgedacht, dass auch die Jahreszeiten auf der Nord- und Südhalbkugel verschieden waren. Die Menschen in Amerika aßen jetzt zum gleichen Zeitpunkt zu Mittag und fächelten sich wegen der Hitze Luft zu – der Gedanke daran war schon merkwürdig.
»Hierzulande ist Sommer gleichbedeutend mit Strand, Cricket und jeder Menge eisgekühltem Bier.« Sie drückte seine Hand. »Das wird dir gefallen.«
Als die Fähre auf den Kai an Milsons Point zulief, tauchte das Eingangstor zum Luna Park auf, das von einem riesigen grinsenden Clownsgesicht gebildet wurde, flankiert von zwei Art-déco-Türmen. Diese Fassade war so hoch wie ein siebenstöckiges Gebäude. Vor noch nicht allzu langer Zeit war es nachts von blinkenden Neonlichtern erhellt, doch seit die Japaner im Februar die australische Stadt Darwin im Norden bombardiert hatten, blitzten keine Lichter mehr aus den großen Rundaugen des Clownsgesichts, und seine Augenbrauen bewegten sich auch nicht mehr wie früher. Von ihrem Platz auf der Fähre aus konnte Pearl den Unterbau von Big Dipper erkennen, die ausladende Fachkonstruktion einer großen Achterbahn mit ihren weit geschwungenen, feminin wirkenden Kurven, sowie das arabische Minarett über dem Fun House, um das sich gelb getönte Glühbirnen wie eine Halskette kringelten.
»Wie lange braucht ein Schiff eigentlich, um bis nach Australien zu fahren?«
James seufzte auf und schlug die Beine übereinander. »Sagen wir es mal so«, antwortete er, »als es in San Francisco losfuhr, ging ich noch in den Kindergarten.«
Sie versetzte ihm einen sanften Stoß in die Seite. »Nein, ernsthaft. Wie lange dauert es?«
Er schürzte die Lippen. »Etwas mehr als fünf Wochen. Ich stelle mir das vor wie eine Reise zum Mond.«
Die Fähre verlangsamte ihre Fahrt und legte an der Kaimauer an. Pearl sprang auf. »Also gut, wir Mondbewohner hier amüsieren uns auch sehr gern!« Gemeinsam gingen sie über den Bootssteg an Land, liefen hinüber zum Luna Park und durchquerten den Eingang, der von dem aufgerissenen Mund des überdimensionalen Clownsgesichts gebildet wurde, unter der Zahnreihe aus Gips. Inzwischen war es später geworden, doch das Gelände des Vergnügungsparks wimmelte noch immer von Besuchern, hauptsächlich amerikanischen Soldaten mit ihren einheimischen Freundinnen. Eine gewaltige Holzkonstruktion namens Arche Noah schwankte von einer Seite zur anderen.
James lächelte und meinte, der Park erinnere ihn an Coney Island, den gigantischen Vergnügungspark New Yorks am Südzipfel von Brooklyn. Nachdem er nach New York gezogen war, fuhr er fast jedes Wochenende dorthin. Pearl erzählte ihm, dass ihre Eltern früher auch einmal Konzerte in Coney Island gegeben hatten, bevor ihr Bruder und sie geboren wurden. Angeblich setzten bei ihrer Mutter die Wehen ein, als sie im Orchestergraben des Tivoli Theatre in Sydney Schlagzeug spielte. Am Ende des ersten Aktes von Der Fliegende Holländer kam Pearl mit den Füßen voran drei Wochen zu früh zwischen Basstrommel und dem Klavier zur Welt. Der Inspizient durchtrennte die Nabelschnur mit einer Schere, und der Familienlegende zufolge tat Pearl keineswegs das, was von ihr erwartet wurde: Statt mit ihrem ersten Atemzug loszubrüllen, öffnete sie nur den Mund und lachte vor sich hin. Der Beginn des zweiten Aktes wurde so lange verschoben, bis Martin zehn Minuten später auf die übliche Weise mit dem Kopf voran das Licht der Welt erblickt hatte. Als Pearl diese Geschichte zu Ende erzählt hatte, krümmte sich James vor Lachen. »Jetzt willst du mir aber einen Bären aufbinden, Mondmädchen. Das hast du dir nett
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