Bittere Sünde (German Edition)
gleich ein Mann raus. Wir werden ihm folgen, um zu beobachten, wohin er fährt.«
»Das ist ein Witz, oder?« Karina lachte nervös, aber ein Blick zu Carlos brachte sie zum Verstummen.
»Wer ist dieser Mann?«
Einen kurzen Augenblick lang kam Carlos sich lächerlich vor. Warum hatte er Karina nicht längst alles erzählt? Warum hatte er ihr einen so großen Teil seines Lebens vorenthalten?
Dabei wusste er sehr genau, warum. Hätte Karina gewusst, was ihm in Argentinien zugestoßen war, hätten sie kein sorgloses Leben miteinander führen können. Dann wäre ständig die Erinnerung an seine Qualen hochgekommen und hätte ihre Beziehung auf die gleiche Weise zerstört, wie seine Ehe. Er hatte damals alles wieder und wieder durchgekaut, bis seine ehemalige Frau genug hatte und ihn verließ. Er machte ihr keinen Vorwurf, es war einfach zu schwer geworden. Irgendwann war sie mehr Seelsorgerin als Geliebte gewesen. Nein, nein, so wie jetzt war es viel besser. Was Pedro Estrabou und seine Leute ihm angetan hatten, würde ihn nicht auch noch sein neues Leben kosten, deshalb servierte er Karina nur die halbe Wahrheit.
»Von ihm habe ich all meine Narben.«
»Dann hat er damals den Unfall verursacht?«
Die Flanke war einfach zu gut, um sie zu verschenken. »Ja, genau. Er ist einfach abgehauen, das soll ihm nicht noch mal gelingen.«
Karina nickte. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, konnte aber auch nicht weiter darüber nachdenken, denn schon zischte Carlos durch zusammengebissene Zähne: »Da ist er.«
Karina musterte den Mann, der gerade den Parkplatz betrat. Er war nicht weiter auffällig. Schätzungsweise Mitte fünfzig, schlank, faltiges Gesicht mit kleinem Kinn. Er sah nicht unbedingt südamerikanisch aus, seine Haut war hell, und seine Augen wirkten ebenfalls hell. Sie schätzte, sie waren blau.
»Jetzt steigt er ein und will losfahren.« Carlos spuckte die Worte mehr aus, als er sie sagte, und startete den Motor.
Am Einkaufszentrum herrschte nicht viel Verkehr, weshalb sie ihm problemlos folgen konnten. Pedro Estrabou steuerte die Autobahn an, Carlos hängte sich an ihn.
Karina schielte zu Carlos hinüber. Wieso hatte sie das Gefühl, dass er ihr nicht die Wahrheit erzählte?
»Was hast du denn als Nächstes vor?«, fragte sie vorsichtig.
Carlos blieb stumm. So weit hatte er noch gar nicht gedacht. »Weiß ich nicht«, antwortete er schließlich knapp.
»Wirst du ihn anzeigen?«
»Ich weiß es nicht, hab ich gesagt.«
Das rote Auto vor ihnen bog nach rechts Richtung Mörby Zentrum ab. Sie passierten das hässliche Einkaufszentrum, Zeitzeuge der Siebzigerjahre, und bogen ein weiteres Mal nach rechts ab. Schon befanden sie sich in einer Wohngegend, und Carlos erhöhte den Abstand, um nicht entdeckt zu werden.
Plötzlich steuerte Pedro Estrabou die Auffahrt zu einem kleineren, beige verputzten Wohnhaus an.
»Und was jetzt?«, fragte Karina.
Carlos parkte den Wagen an der Bordsteinkante. Er atmete beunruhigend schwer, keuchend.
Karina sah ihn besorgt an. »Geht es dir nicht gut?«
Er verzog schmerzverzerrt das Gesicht und griff sich an den linken Arm. »Ich kriege keine Luft … Ich glaube … Das ist ein Herzinfarkt.«
Karina konnte sich nicht wirklich daran erinnern, wie sie Carlos ins Krankenhaus bekommen hatte. Sie wusste nur noch, dass sie schneller gefahren war als je zuvor, und dass es irgendwie gut gegangen war.
»Sind Sie die Ehefrau von Herrn Fernandez?« Die Krankenschwester sah sie freundlich an.
»Nein, seine Freundin. Wir leben zusammen.« Karina schluckte.
»Das ist ja das Gleiche. Er wird durchkommen«, sagte die Schwester lächelnd.
Karina spürte, wie ihre Augen feucht wurden. All ihre Kraft, all ihren Mut hatte sie verloren, aber das Wichtigste war, dass Carlos sie nicht verlassen würde. Die Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Sie können zu ihm, wenn Sie möchten.«
Sie wischte sich schnell mit dem Ärmel übers Gesicht. Ihre Beine zitterten, als sie sich von dem durchgesessenen Sofa im Wartebereich erhob.
Die Krankenschwester schaute ihr tief in die Augen und wiederholte mit ruhiger Stimme: »Er wird wieder gesund, glauben Sie mir.«
Carlos schlief tief, eine Hand auf die Stirn gelegt. Karina betrachtete ihn. Seine weichen, grauen Locken umrahmten sein lebendiges, faltiges Gesicht, das verriet, was er erlebt hatte, was ihn ausmachte. Was verbarg er nur vor ihr? Und warum? Sie liebte ihn doch so sehr, dass sie daran fast zugrunde ging.
Irgendwann wachte
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