Black Swan - Silberner Fluch
Hause.« Er warf einen Blick aus dem Fenster neben dem Bett meines Vaters. »Sieht so aus, als ob schlechtes Wetter von Süden aufzieht.«
Obie Smith hatte Recht. Kalte, nadelspitze Regentropfen fielen, als ich das Krankenhaus verließ. Ich klappte meinen Kragen hoch, zog den Kopf ein und wünschte, einen Hut oder einen Schirm mitgenommen zu haben. Aber als ich das Haus verlassen hatte, war es noch trocken und klar gewesen. An der 7th Avenue Ecke 12th Street blickte ich nach Norden in Richtung Stadtmitte. Die Lichter der Avenue leuchteten klar vor einem kobaltblauen Himmel. Aber wenn ich mich nach Süden wandte, konnte ich durch den Nebel kaum bis zur nächsten Straßenecke sehen. Es war, als sei die Südspitze Manhattans komplett von Dunst verschluckt.
Komisches Wetter, dachte ich beim Überqueren der Straße, vielleicht wieder ein Zeichen für die globale Erwärmung. Aber das war nicht weiter beunruhigend. Es kamen mir ja viele Leute auf der Greenwich Avenue entgegen …
An der Ecke der Jane Street blieb ich stehen und sah mich um. Alle Fußgänger kamen mir entgegen. Sie gingen auf die 7th Avenue zu, kein Einziger spazierte wie ich zur 8th. Gab es vielleicht irgendwo eine Parade, von der ich nichts mitbekommen hatte? Aber welche Parade fand Mitte Dezember statt? Vielleicht wollten sie alle zum Irving Place und sich London Dispersion Force anhören, überlegte ich, fest entschlossen, positiv zu denken.
Auf der Jane Street war der Nebel noch schlimmer – ein hässlicher Klumpen geronnener Sahne, leicht gelblich eingefärbt und ein wenig nach faulen Eiern riechend, ganz ähnlich dem Geruch, den die Schattenmänner an sich gehabt hatten. Das konnte doch nicht allein ein seltsames Wetterphänomen sein – entweder war ein Kanalrohr gebrochen, oder es trat irgendwo Gas aus. Vielleicht sollte ich zurückgehen – aber wohin? Ich war erschöpft. Ich wollte nichts lieber, als in meinem eigenen Haus in meinem Bett liegen. Das Geländer unseres Treppenaufgangs ragte aus dem Nebel. Drinnen würde ich mir die Nachrichten im Fernsehen ansehen; vielleicht fand ich ja dann heraus, was hier vor sich ging.
Nachdem ich die Tür geöffnet, den Alarmcode eingegeben hatte und eingetreten war, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Tür, als wollte ich den Nebel mit aller Gewalt draußen halten. Aber der Nebel schien schon im Haus zu sein . Der Flur war düster, die schattenumlagerten
Ecken verschwommen und unscharf. Vermutlich kündigte sich ein neuer Migräneanfall an. Der auffällig gezackte blinde Fleck, der den Kopfschmerzen stets vorausging und den ich mir inzwischen immer als böse, schwebende Wassernymphe vorstellte, trieb bereits durch mein Blickfeld. Nach all dem, was hinter mir lag, war das kein Wunder. Ich brauchte nichts weiter als zwei Schmerztabletten und zehn Stunden Ruhe in einem verdunkelten Zimmer. Das war alles.
Müde schleppte ich mich die beiden Treppen empor und musste daran denken, dass meine Mutter stets gesagt hatte, wenn sie einmal alt sei, würden wir einen Lift einbauen müssen.
»Du wirst niemals alt sein«, hatte Roman dann immer erwidert und natürlich damit gemeint, dass meine wunderschöne Mutter niemals alt aussehen, und nicht, dass sie mit einundsechzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben kommen würde. In einer Hinsicht hatte Roman allerdings Recht gehabt: Margot James sah immer noch aus, als sei sie noch nicht einmal vierzig, als sie starb.
Als ich meine Wohnungstür öffnete, stellte ich fest, dass Becky und Jay auch hier oben gewesen waren. Jemand hatte das Flockenkonfetti aufgefegt und das Fingerabdruckpulver weggewischt. Außerdem hatte jemand (vermutlich Becky, die bei ihrem Sommereinsatz für eine Hilfsorganisation in Mittelamerika beinahe ein kleiner Zimmermann geworden war) ein Brett vor das kaputte Oberlicht genagelt. Zwischen dem Holz und dem Rahmen konnte ich allerdings ein kleines Stück Himmel sehen, und ich hoffte, dass Becky beim Errichten von billigem Wohnraum für die Armen in Ecuador etwas gründlicher
gewesen war. Es machte sogar den Anschein, als hätte meine Freundin endlich in die Tat umgesetzt, was sie mir schon so lange angedroht hatte: meine Regale mit dem Schmuckzubehör und dem Altmetall abzustauben und blankzuwischen. Die verbogenen Straßenschilder und weggeworfenen Fahrradräder, die verschieden langen Ketten und verbeulten Autoteile, die ich auf den Straßen der Stadt eingesammelt oder in verlassenen Lagerhäusern gefunden hatte, schimmerten wie
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