Blackmail: Thriller (German Edition)
hinfahren?«
»Natürlich. Ich muss.«
Ich schüttele erstaunt den Kopf. »Wie kannst du das nur? Wie kannst du Jenny heute Abend in die Augen sehen?«
Drew beobachtet das Display, bis das Telefon zu summen aufhört; dann begegnet er meinem Blick mit der Ernsthaftigkeit eines Mönchs. »Ich habe ein reines Gewissen, Penn. Ich habe Kate mehr geliebt als irgendjemand sonst auf der Welt, außer vielleicht ihre Mutter. Und jeder, der Kate geliebt hat, ist heute Abend in ihrem Haus willkommen.«
Drew hat recht und unrecht zugleich. Er ist heute Abend willkommen im Haus der Townsends, ja, er wird von allen Besuchern wahrscheinlich der größte Trost für Jenny Townsend sein. Doch was wäre, wenn Jenny wüsste, dass ihr Hausarzt Sex mit ihrer minderjährigen Tochter gehabt hat? Dass er im Begriff stand, seine Familie aufzugeben und Kates perfekt geplante Zukunft in tausend Stücke zu zerschlagen?
»Ich rufe dich morgen an«, sage ich leise.
Drew packt mich am Unterarm, als ich aus dem Auto steige, und einmal mehr bin ich gezwungen, in seine tiefblauen Augen zu blicken. »Ich habe nicht den Verstand verloren, Penn. Es war keine Midlife-Crisis, die mich zu Kate geführt hat. Ich habe mich seit langer Zeit nach Liebe gesehnt, und trotzdem habe ich mehr Frauen in dieser Stadt einen Korb gegeben, als du dir vorstellen kannst, verheirateten und alleinstehenden. Als ich mir letzten Sommer bei dem Autounfall das Knie verletzt habe, war ich sechs Wochen lang zu Hause. Kate war jeden Tag da, um auf Tim aufzupassen. Wir fingen an, uns miteinander zu unterhalten. Ich konnte nicht glauben, über welche Themen sie redete, welche Bücher sie las. Wir schickten uns nachts E-Mails und Instant Messages, und es war, als würde ich mich mit einer fünfunddreißigjährigen Frau unterhalten. Als ich wieder gehen konnte, organisierte ich eine medizinische Hilfsmission nach Honduras. Kate wollte mit und meldete sich freiwillig. Es war Ellen, die den Vorschlag machte, auf ihren Wunsch einzugehen. Damals ist es dann passiert. Bevor wir in dieStaaten zurückkehrten, wusste ich, dass ich mit ihr zusammenleben wollte.«
»Sie war erst siebzehn, Mann. Was für ein Leben hättest du mit ihr führen können?«
»Ein wahrhaftiges Leben. Sie wäre in zwei Wochen achtzehn geworden, Penn, und sie wäre im Herbst nach Harvard gegangen. Ich habe bereits die medizinischen Staatsexamen von Massachusetts absolviert. Ich war unter den besten fünf Prozent. Und ich habe bereits eine Anzahlung auf ein Haus in Cambridge geleistet.«
Ich bin sprachlos.
»Und jetzt wird nichts von alledem jemals geschehen«, sagt Drew, und sein Gesicht ist starr vor Wut und Verwirrung. »Weil jemand Kate ermordet hat.«
»Du weißt nicht, ob es Mord war.«
Seine Augen verengen sich. »Und ob ich das weiß! Es war Mord!«
Behutsam löse ich meinen Arm aus seinem Griff. »Es tut mir leid, Mann. Ehrlich. Aber wenn herauskommt, dass du ein Verhältnis mit Kate gehabt hast, werden sie dich kreuzigen. Du fängst besser schon mal an …«
»Es ist mir egal, was aus mir wird! Ich mache mir Gedanken um Tim. Was kann ich für ihn tun? Was ist das Beste für ihn?«
Ich schüttele den Kopf und öffne die Tür in den Regen. »Um ein Wunder beten.«
Mia Burke sitzt auf der Veranda meines Hauses an der Washington Street, neben sich einen prallvollen grünen Rucksack. Ich parke am Straßenrand, während ich nach Annies kleinerer Gestalt suche. Dann sehe ich, dass die Vordertür leicht geöffnet ist; also schläft Annie noch, und Mia lauscht auf sie. Mia erhebt sich, als ich den Wagen abschließe, und im Licht der Straßenlaterne erkenne ich, dass sie genau wie Drew geweint hat.
»Alles in Ordnung mit dir?«, frage ich, während ich den Bürgersteig überquere.
Sie nickt und wischt sich über die Wangen. »Ich weiß überhaupt nicht, warum ich so viel weine. Kate und ich waren keine wirklich guten Freundinnen.«
Mia Burke ist das äußerliche Gegenteil von Kate Townsend. Dunkelhaarig und braunhäutig, knapp eins sechzig groß mit der Muskulatur und Gestalt einer Sprinterin. Sie hat große dunkle Augen, eine Stupsnase und volle Lippen, die wahrscheinlich die Fantasie von hundert heranwachsenden Jugendlichen befeuert haben. Sie trägt Jeans und ein Lifehouse-T-Shirt, und in den Händen hält sie ein Buch von Paul Bowles, The Sheltering Sky. Mia hat einen überraschend eklektischen Geschmack, und das verwirrt wahrscheinlich die gleichen Jungs, die von ihren sonstigen Attributen
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