Blinde Zeugen: Thriller
schlug die Augen auf und erblickte einen abgerissenen Typen: geschwollene Nase, rote Augen, buschiger schwarzer Bart; eine kahle Stelle am Hinterkopf wie eine Tonsur; blauer Parka, an dem der halbe Pelzbesatz fehlte, dazu eine Hose, die schon bessere Tage gesehen hatte und mit Ketchupflecken verziert war, und verdreckte graue Turnschuhe. Robert Danavell, besser bekannt als Dirty Bob.
»Was willst du, Bob?«
PC Karims Lieblingsberber grinste und ließ Logan seine Zahnlücken sehen. »Deine Kippen.« Er deutete mit einem schmutzigen Finger auf die heruntergefallenen Zigaretten. »Die brauchste doch nich’ mehr?«
»Nur zu.«
»Ah, danke, Mann, bist ’n feiner Kerl.« Dirty Bobs Gelenke knackten, als er sich bückte. »Nich’ wie dieser Fettsack gestern. Sagt, ich stink ihm den Empfang voll. Ich! Wo mein bester Kumpel tot im Leichenschauhaus liegt …«
Logan sah zu, wie Bob die Zigaretten aus dem Rinnstein auflas. Es war ein armseliges Leben, aber Dirty Bob wusste immerhin, was ihm wichtig war: Schnaps, Zigaretten und hier und da mal eine halb aufgegessene Portion Fish and Chips oder ein weggeworfener Döner – was immer er im Abfall so finden konnte.
Keine Entscheidungen über Leben und Tod. Keine moralischen oder ethischen Dilemmas. Keine Heul- und Zitteranfälle, bloß weil irgendein blöder Song im Radio kam.
Es sagte wohl etwas über das eigene Leben aus, wenn man anfing, Leute wie Dirty Bob zu beneiden.
Bob hockte inzwischen auf dem Gehsteig. Er hatte eine der Zigaretten, in deren Besitz er unverhofft gelangt war, zwischen die Lippen geklemmt und klopfte seine Taschen ab, bis er ein kleines Streichholzheftchen gefunden hatte. Mit einem bekümmerten Lächeln steckte er sich die Zigarette an. Er sah zu Logan auf. »Haste nich’ noch ’n bisschen was über für ’nen alten Mann, der gern zum Andenken an seinen besten Kumpel einen heben würd’?«
»Alter Mann? Du bist zweiundvierzig, Bob, nicht siebzig.«
Dirty Bob zuckte mit den Achseln. » Aye , aber in Berberjahren is’ zweiundvierzig schon viel älter. Guck dir bloß den armen Richard an.« Er schniefte und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase, auf der ein beinahe sauberer Streifen zurückblieb. »In der Blüte seiner Jahre …«
Halb elf. Ein paar der Pubs am Regent Quay hatten sicher schon seit Stunden geöffnet, als Service für alle Nachtschichtarbeiter und Vormittagstrinker. Verlockend. Logan zückte seine Brieftasche und zog einen Fünfpfundschein heraus. Dann überlegte er es sich und wählte stattdessen einen Zwanziger. »Da.«
Dirty Bob beäugte den Schein argwöhnisch. Dann grinste er und schnappte ihn sich. » Aye , das gibt ’ne würdige Gedenkfeier für Richard.« Er rappelte sich ächzend auf, salutierte flüchtig vor Logan, machte kehrt und humpelte in seinen verdreckten Turnschuhen davon.
Mit zwanzig Pfund würde ein langjähriger Berufsalkoholiker wie Dirty Bob nicht weit kommen, jedenfalls in einem Pub. Aber wahrscheinlich bekam man dafür Unmengen Spiritus.
Logan rieb sich das Kinn und spürte die kratzigen Stoppeln. Vielleicht hatte Bob ja gar nicht so unrecht, wenn er seine Sorgen in einer Flasche versenkte. Einfach auf die Welt draußen scheißen. Alles um sich herum vergessen …
Und wenn es sonst schon nichts brachte, würde er so vielleicht wenigstens seinen Kater loswerden.
Logan schlenderte auf die Union Street hinaus, überquerte die Straße und ging die Marischal Street hinunter in Richtung Hafen. Das Regents Arms war eine schäbige kleine Kneipe, deren Fensterscheiben mit einer dicken Schicht schwarzer Farbe bedeckt waren. Wenn man aus der grellen Morgensonne in das schummrige Kunstlicht des Lokals trat, kam man sich vor wie in einer Gruft. Hinter der Theke hing eine Sammlung von Apostrophen – Postkarten, Fotos, geklaute Plastik-Exemplare von Ladenschildern, alles als Ausgleich für den fehlenden Apostroph im Namen des Pubs.
Die Kneipe war fast leer. Nur zwei alte Männer hockten in der Ecke neben dem Zigarettenautomaten und hielten sich an ihren Pintgläsern fest, und eine hagere Frau in einem sehr kurzen schwarzen Rock saß über die Theke gebeugt auf einem Barhocker, die Finger um ein leeres Glas geschlungen, eine glimmende Zigarette in der Hand. Die Haut weiß wie Milch, bläulich schimmernde Venen in den Tiefen ihres Dekolletees. Sie blickte auf, als Logan sich ans andere Ende der Theke setzte, und lächelte ihn an. Wenigstens hatte sie daran gedacht, ihr Gebiss einzusetzen.
»Hallo
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