Blutgeld
Geste der Unterwerfung deutete.
«Wir verstehen uns also», sagte er. Er erhob sich von seinem Schreibtisch und deutete zur Tür. Der Henker hatte sein Werk vollbracht. Das Verhör war beendet. Die Verurteilung wegen Verrats war im Voraus ausgesprochen worden. Er klingelte nach der englischen Sekretärin, die die Besucherin wieder hinausbegleiten sollte. Als Hammud Lina die Hand schüttelte, sprach vollkommene Zuversicht aus seiner Miene, als würde die Nachricht vom Tod ihrer Tante Linas Unabhängigkeit den endgültigen Schlag versetzen und zukünftig ihre Loyalität garantieren.
Aber in diesem Punkt hatte sich Nassir Hammud verrechnet. Er hatte damit nur bewirkt, dass Lina zornig wurde. Soha war ihre einzige Verwandte in Bagdad gewesen, und mit Sohas Leben dort hatte man Lina all die Jahre erpressen können. Lina hatte gewusst, wenn sie sich illoyal verhielt, würde ihre Tante dafür büßen müssen. Jetzt, wo das Schlimmste geschehen, ihre Tante tot war, empfand sie eine Art Befreiung. Die Kette aus Angst und Verpflichtung, die Lina mit Hammud verbunden hatte, war gerissen. Sie fühlte noch etwas anderes, als sie Hammuds Büro verließ. Es war das einfachste und vielleicht reinste Gefühl, das jemand empfinden kann, wenn einem geliebten Menschen Schaden zugefügt worden ist: Was sie fühlte, war das Verlangen nach Rache.
Hammuds Sekretärin führte Lina durch die Tür in jene Abteilung, die der Öffentlichkeit zugänglich war; den Flur entlang, dahin, wo die britischen Angestellten von Coyote Investment ihre Büros hatten, zu einem kleinen Raum mit einem winzigen Fenster. Jemand hatte Linas Handtasche auf den Schreibtisch gelegt, ein paar persönliche Gegenstände aus ihrem alten Büro, ein Londoner Telefonbuch, einen neuen Tacker und einen Tesa-Spender. Einige ihrer neuen britischen Bürokolleginnen schauten herein, um sich vorzustellen. Sie schienen nicht die geringste Ahnung von den eigentlichen Vorgängen in dem Unternehmen zu haben. Doch auf der anderen Seite des Gebäudes war die Stimmung düster. Es war dasselbe angespannte Schweigen wie in Bagdad, wenn mitten in der Nacht die
Moukhabarat
kamen und jemand abführten. Niemand stellte Fragen, niemand traute sich zu atmen. Aber den Arabern, die wussten, wie das Unternehmen in seinem Inneren funktionierte, war sofort klar, dass etwas Wichtiges passiert war. Mr. Hammud nahm nur Veränderungen vor, wenn Schwierigkeiten beseitigt werden mussten.
Am späten Vormittag wagte sich Randa Aziz zu Linas neuem Büro hinüber. «Hübsch», sagte Randa und nahm Linas neue Bude in Augenschein. «Schau an, ein Fenster. Jetzt kannst du sogar um Hilfe schreien.»
«Pst», sagte Lina. «Ich hab schon genug Ärger.»
«Was ist passiert? Wieso haben die dich versetzt? Hast du dir deswegen gestern Abend so viel Sorgen gemacht?» Randa war jemand, der nicht lange um eine Sache herumredete.
«Ich habe geahnt, dass irgendwas passieren würde, aber ich wusste nicht, was. Mr. Hammud hat mir gesagt, mein neuer Job wäre eine Beförderung, aber es kommt mir nicht so vor.»
«Hat er dir eine Gehaltserhöhung gegeben?»
«Ja.»
«Dann ist es eine Beförderung. Denk dran, bei der Arbeit hier geht’s nur um Geld. Nur um Geld. Wie viel zahlt er dir?»
«Einhundert die Woche.»
«
Ma’aqoula
? Was ist los? Du musst ja was wirklich Schlimmes angestellt haben, dass sie dir so viel bezahlen müssen!»
«Schh! Ich hab überhaupt nichts Schlimmes angestellt. Rede nicht so laut.»
«Willst du mich nicht zum Mittagessen einladen? Jetzt wo du so reich bist, können wir zum Tearoom im Carlton Tower Hotel gehen – in die Chinoiserie – und zuschauen, wie die arabischen Mädchen nach Ehemännern angeln. Wirklich herrlich! Diese ganz dicken Mädels in ihren engen Kleidern. Das musst du gesehen haben!»
«Heute nicht. Ich bin nicht in der Stimmung. Ich muss nachdenken.»
«Worüber?»
«Ich weiß noch nicht. Deswegen muss ich ja nachdenken.» Randa sah verwirrt aus. Denken war nicht ihre Stärke. «Okay. Wie du meinst. Aber ich gehe in die Chinoiserie.» Sie zwinkerte Lina zu und sah auf ihre Uhr. «Muss mich beeilen.»
Später am Tag versuchte Lina, sich im Computersystem anzumelden. An ihrem neuen Arbeitsplatz gab es keinen PC , aber sie fand einen in einem leeren Büro am Ende des Ganges. Lina setzte sich ans Gerät, gab ihren Benutzernamen und das Passwort ein, aber es gelang ihr nicht, ins System zu kommen. Dann versuchte sie, sich als Systemadministratorin Zugang zu
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