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Blutherz - Wallner, M: Blutherz

Blutherz - Wallner, M: Blutherz

Titel: Blutherz - Wallner, M: Blutherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Wallner
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sind sie mittelalterlich. Eilig schlüpfte Sam in ihre Sachen, sie musste dringend aufs Klo, erreichte die Tür – kein Zweifel, hier war etwas aufgewischt worden – und spähte hinaus. Stille und Zwielicht. Im Turm schien es nur diesen einen Raum zu geben. Sie eilte eine Etage tiefer. Vorsichtig öffnete sie eine Tür, die nächste und noch eine; nirgends fand sie das stille Örtchen, das sie so dringend benötigte. Wie macht er das morgens, überlegte sie, er läuft bestimmt nicht so weit, um ins Bad zu kommen? Auf der Treppe blieb sie stehen; vielleicht versteckten die Kóranyis ihr Klo aus Gründen der feinen Lebensart hinter geheimen Tapetentüren. Während sie weitereilte, staunte sie noch über etwas anderes. Wohin sie auch lief, in welches Stockwerk sie auch kam, sie hatte noch keine Menschenseele gesehen und nicht das kleinste Geräusch gehört.
    Unvermittelt blieb sie vor der Tür zum Zimmer des jüngeren Bruders stehen. Sie beschloss, ihn um Auskunft zu bitten, klopfte und trat ein. An der unaufgeräumten Atmosphäre hatte sich nichts geändert, bloß der Bewohner fehlte. Auch ein
Frühaufsteher, dachte sie, das war wirklich eine seltsame Familie. Was machten diese Leute morgens? Wo war Papa Kóranyi, wo waren die Angestellten? Plötzlich schlug Sam sich an die Stirn: Hier wohnten schließlich keine reichen Nichtsnutze. Das hier waren Geschäftsleute, sie hatten zu tun, mussten früh raus. Time is Money! Sam malte sich aus, wie Taddeusz mit seinem Vater in der schwarzen Limousine zur Arbeit gefahren war, in ein getäfeltes Büro in der City.
    Da aus dem zärtlichen Frühstück nichts zu werden schien und da ihr auch sonst niemand Auskunft geben konnte, lief Samantha ins Erdgeschoss, warf einen letzten Blick zum Turm hinauf, wo sie die unglaubliche Nacht verbracht hatte, durchquerte die Eingangshalle, öffnete die schwarze Tür, schlüpfte ins Freie und gleich darauf auf den Belgrave Square.
    Beim Hyde Park Corner besuchte sie eine öffentliche Toilette und wollte den Bus ins Krankenhaus nehmen. Wozu aber, überlegte sie, ich muss ja erst in ein paar Stunden zum Dienst. Also flanierte Samantha die Piccadilly Street stadteinwärts, kam am Hotel Ritz vorbei, bog in die St. James ein und später in die Pall Mall. Sie spazierte durch das morgendliche London und nahm doch nicht viel davon wahr; ihre Gefühle und Gedanken waren bei Teddie. Als sie weiter nach Norden kam, entdeckte sie Männer mit Wasserpfeifen an kleinen Tischen, sie lasen Zeitung oder spielten ein Würfelspiel, sie trugen Bärte und hatten ihr Haar unter kleinen Filzkappen verborgen. Die Kühle des Oktobertages störte sie nicht; nur der Kellner fror, während er den Männern Mokka servierte. Sam musste in eine der Einwanderergassen geraten sein, diese kleinen Welten, wo sich verschiedene nationale Gruppen auf engem Raum zusammendrängten, um in der fremden Stadt ein Heimatgefühl zu bekommen.
    Plötzlich nahm sie noch jemand anderen wahr. Auch er trug
ein langes Gewand – einen Mantel, einen Kaftan? – und hatte einen breitkrempigen Hut auf. Darunter verbarg ein Schleier sein Gesicht zur Gänze. Die Hände des Mannes steckten in Handschuhen. Als Sam ihn bemerkte, wandte er sich rasch ab. Sie ging weiter, blieb stehen, und wirklich, auch der Mann hielt an. Wer war das, was wollte er, in welchem Viertel befand sie sich überhaupt? War er einer von den Kaffeetrinkern oder folgte er ihr schon länger? Seltsam, dass ein so ungewöhnlicher Passant den anderen nicht auffiel. Doch auch das war London: Hier wimmelte es von ungewöhnlichen Leuten; wollte man sich nach jedem umsehen, bekäme man bald eine Halsstarre. Sam suchte eine bekannte Straße, einen vertrauten Ausblick, sie hastete durch das Viertel, konnte ihren Verfolger aber nicht abschütteln.
    Das ist doch zu dumm! Sie blieb stehen. Wir sind nicht in der Wildnis, wo ich davonlaufen muss; an jeder Straßenecke flaniert ein Bobby, der eingreift, wenn Frauen belästigt werden. Sam sah sich nach einem der schwarzen Helme um. Bitte sehr, da kam auch schon ein Polizist des Weges.
    »Officer«, sprach sie den Uniformierten an.
    »Bitte, Miss, was kann ich für Sie tun?«
    »Ich werde verfolgt.« Auch wenn der Satz melodramatisch klang, sah sie dem Wachtmeister fest in die Augen.
    »Verstehe, Miss. Von wem werden Sie verfolgt?« Er schaute die Straße hinunter.
    »Von dieser Gestalt dort.« Sie streckte die Hand dorthin aus, wo der Vermummte gestanden hatte. »Nanu?«
    »Ja, Miss?«
    »Ein Kerl im

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