Blutige Tränen (German Edition)
Sie sah durch mich hindurch. »Du bist stark genug gewesen, um Silk zu befreien. Lance konnte sonst niemanden zu Isgira schicken. Er hat schon einige seiner besten Männer verloren. Und ... er ist so besessen von dem Jungen. Seinem eigenen Fleisch und Blut.« Sie seufzte verbittert.
»Er will die Macht.«
Lucía nickte. »Natürlich.« Es klang nachsichtig, als spräche sie mit einem kleinen Kind. »Aber du musst auch wissen, dass er Silk wirklich liebt. Der Junge ist eine Obsession für Lance.«
»Aber«, in einer hilflosen Geste hob ich die Hände, »das hier ist nicht meine Welt, nicht mein Problem. Warum bin ich hier? Warum gerade ich?«
»Du bist stark und mächtig ... Ja, gerade du, der du aus der anderen Welt kommst. Du bist so alt, dass er keine Angst haben muss, dass du dich an Silk verlierst.« Sie schenkte mir einen langen Blick. »Du weißt, was ich meine ... Der Junge ist der Auserwählte, er zieht sie alle an – Männer und Frauen. Er kann alle manipulieren. Niemand wird ihm widerstehen können.«
»Außer einem Vampir«, fügte ich grollend hinzu.
Sie schüttelte den Kopf. »Außer einem sehr alten Vampir«, verbesserte sie mich.
Ich dachte an Gabriel. »Was hat er mit Gabriel gemacht, als er bemerkte, dass er nicht der richtige für diese Mission ist?«
»Gabriel? Der junge Vampir, der sich hier ein ganzes Jahr lang aufgehalten hat?«
Aufgehalten – fast hätte ich darüber gelacht. Fehlte nur noch, dass sie von Urlaub gesprochen hätte.
»Er musste nicht halb soviel erdulden wie du, Alexander.«
»Er ist völlig verändert«, wandte ich scharf ein.
Mit einer Handbewegung wischte sie meinen Einwand einfach beiseite. »Ich habe nicht vor, mich mit dir über deinen Vampirfreund zu unterhalten. Es geht um Wichtigeres.«
Ich ärgerte mich über ihren Befehlston, doch ich schwieg.
»Es geht hier um die Zukunft von Limara, es geht um ein ganzes Reich. – Silk spielt eine wichtige Rolle, es ist ihm vorherbestimmt, für das Reich zu sterben.«
Ich starrte sie an, als sei ihr ein zweiter Kopf gewachsen. »Und was soll ich dabei?«
»Du hast keine Aufgabe, Alexander. Du darfst nur nicht eingreifen, verstehst du mich? Dies hier ist nicht deine Geschichte. Du musst es so geschehen lassen!«
»Ich habe ihn befreit, damit er stirbt?« Ich war völlig verblüfft. Was sollte das nun? Sollten sich meine Ahnungen tatsächlich auf so erschreckende Weise erfüllen?
»Lance hat Silk zu sich geholt, obwohl er die Prophezeiungen kennt. Er versucht, gegen sein Schicksal zu kämpfen. Doch das wird niemals funktionieren, auch nicht mit Hilfe aus einer anderen Welt«, erklärte Lucía ernst. »Erst, wenn er tot ist, besteht die Chance, dass das Reich wieder vereint wird.«
Wieder fühlte ich diese rasenden Kopfschmerzen, die wie eine gewaltige Flutwelle über mir zusammenschlugen. »Ich denke, er ist der Auserwählte«, wandte ich ein. »Er bestimmt, wer der Herrscher über Limara sein wird.«
»So wäre es gewesen, wenn nicht sowohl Isgira als auch Lance versucht hätten, die Bestimmung zu umgehen. Sie wollen seine Begabung als Waffe nutzen. – Ich kann dir nicht mehr sagen, Alexander, außer: Hüte dich, in diese Geschichte einzugreifen. Deine Macht ist hier bei uns äußerst beschränkt ... und du möchtest schließlich irgendwann einmal zurück in deine Welt, nicht wahr?«
Ich hörte die unausgesprochene Drohung. Lance und Lucía hatten viel miteinander gemeinsam ...
Im Saal war es sehr heiß. Das ausgelassene Lachen und Reden füllte den hohen Raum, übertönte fast die sanfte Klaviermusik. Doch der Pianist fühlte sich nicht gestört, er wusste, dass sein Spiel lediglich akustischer Hintergrund sein sollte. Und – er war ein Elf, der ganz in seiner Musik aufging. Ihn interessierte es nicht, ob er beachtet wurde. Seine Musik reichte ihm, dass er sich wohlfühlte. Er war der einzige Elf, den Dygwion in seinem Schloss duldete. Und wahrscheinlich war er auch der einzige Elf vom Unseelie Court, der sich dazu herabließ, unter den Menschen zu verweilen, für sie zu spielen – ohne ununterbrochen Mordgedanken zu hegen.
Brian sah seinen Sohn aufmerksam an.
»Julian, du solltest jetzt Wasser trinken. Sonst hast du morgen früh einen Kater.«
Julian lachte angetrunken, ein wenig selbstgefällig. Er fühlte sich unglaublich schwer, aber auch sehr wohl. Natürlich hatte er zu viel getrunken, aber eine objektive Einschätzung seines Zustandes war ihm längst abhandengekommen. Und das war auch gut
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