BLUTIGER FANG (German Edition)
hatte.
„Frank lebt nicht mehr.“ Sie klang, als wolle sie sich selbst überzeugen.
„Bist du Leichenbeschauer?“, sagte Joel. „Hast du ihn gesehen? Seinen Puls gefühlt oder die Hirnströme gemessen?“
Linda seufzte.
„Mach mich los! Dann gehen wir hoch und retten, was zu retten ist.“
„Und wenn er doch schon tot ist? Dann gehen wir umsonst hoch und …“
„Sind wir hier an der Börse? Willst du im Ernst über diese Frage spekulieren?“ Joel atmete durch. „Während wir hier hocken und nichts unternehmen, stirbt er vielleicht in diesem Moment. Ist er gerade gestorben? Tut er es jetzt? Oder in zwei Minuten? In Minuten, die ihn vielleicht hätten retten können, wenn wir gehandelt hätten. Was würdest du sagen, wenn du jetzt da oben liegen würdest?“
„Bronco wäre längst da und würde mir helfen.“ Sie sprach sehr schnell und im Brustton der Überzeugung.
Joel entgegnete ruhig und betont langsam, wobei er die Augenbrauen hob: „Und Frank ist keine Hilfe wert?“
Linda stand auf und spähte über das Regal hinüber zu den Rolltreppen.
Sie hoffte, es solle von dort die Lösung aus diesem Dilemma kommen, in das Joel sie hineingeredet hatte. Sie sah ein, dass er richtig lag mit seiner Ansicht, man müsse Frank helfen. Auf jeden Fall wäre es in einer solchen Situation objektiv betrachtet die erste Pflicht gewesen, zunächst einmal überhaupt nach ihm zu sehen. Sollte er dann noch leben, müsste alles unternommen werden, um ihn zu retten – auch auf die Gefahr hin, dass sie im Anschluss daran Ärger mit dem Gesetz bekämen.
Sie wusste, dass der Preis, den sie zahlen müsste, wenn sie um eine Bestrafung durch das äußere Gesetz herumkam, sehr hoch war. Denn sie würde es mit dem inneren Gesetz zu tun bekommen – in Form eines schlechten Gewissens, das sie zeitlebens quälen würde.
Sie sah Joel an. Genau das war es, was sie an ihm nicht mochte. Was sie an Männern wie ihm überhaupt so ablehnte. Er stand für den Typ des unkorrumpierbar auf die Wahrheit Setzenden, der immer das Richtige tun wollte, auch wenn diese Wahrheit am Ende gegen ihn selbst ausschlug. Für sie würde es womöglich nicht so schlimm werden. Ihre Eltern hatten gute Beziehungen in Gehrsdorf und waren angesehen. Doch für Bronco, den stadtbekannten Outlaw, würde es im Fall einer Verhaftung schlecht aussehen. Und diese Vorstellung piekste sie gewaltig.
Sie wurde dennoch den Gedanken an den womöglich gerade jetzt sterbenden Frank nicht los. Sie war dabei so in sich gekehrt, dass sie die Worte Joels, der ohne Ende weitertextete, kaum mehr hörte. Dann fasste sie einen Entschluss. Sie drehte sich um, trat an ihn heran und kniete erneut nieder …
Der Nachtwächter Peter Häuptel trat in das Restaurant, machte noch ein paar Schritte vor und schaltete die Taschenlampe ein, die er in der linken Hand hielt; seine rechte Hand umkrallte die Dienstwaffe.
Leise setzte er Fuß um Fuß an der Bar entlang.
Es war ganz still.
Da stieß er gegen etwas. Er leuchtete mit der Taschenlampe hinunter. Sein Mund klappte auf. „Um Gottes Willen! Was … was ist denn hier …?“
Er stand vor der Leiche eines dicken Mannes. Ringsum war alles blutverschmiert. Die Leiche war fürchterlich zugerichtet und Häuptel fiel es schwer, die rote Farbe des seltsamen Aufzugs von dem des Blutes zu unterscheiden. Das Gesicht war zerfetzt und praktisch nicht mehr da. Er leuchtete den Körper ab, der überall zu bluten schien. An der linken Hüfte quollen Eingeweide hervor, und Häuptel hielt sich die Hand vor den Mund. Er hätte sich fast übergeben müssen, wollte schreien, etwas sagen, blieb aber wie angewurzelt stehen.
Häuptel setzte den Strahl der Taschenlampe über die Leiche hinweg und weiter am Boden entlang in Richtung des Bufetts. Dort lag noch ein anderer Mann. Für einen Moment vermeinte er zu sehen, dass der Mann den Mund bewegte.
„Was ist hier pass– …?“
Der Lichtstrahl fuhr weiter durch das Restaurant und fiel über die am Boden liegenden Tische und Stühle, die eine Schneise bildeten, der das Licht allmählich nach hinten folgte.
Die Schneise endete in der Ecke.
Häuptel fühlte sein Herz aussetzen, als er die Löwen sah, die ihn die ganze Zeit schon angestarrt haben mussten.
Der Schein der Lampe fiel schließlich auf den Pascha.
Die Löwen gingen sofort zum Angriff über.
Häuptel spürte, wie seine Knie
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