Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
Mit hohlen Augen starrte er sie an. Sosehr sie auch riss und zerrte, er ließ nicht locker.
»Hilf mir«, bettelte sie, begann zu weinen und drehte sich zu Finnegan und den anderen um.
Cindiel brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was an dem Weiher und dem Baum Mystraloon vor sich ging. Wie eingefroren standen sich die Söldner und Stadtwachen gegenüber. In der Bewegung erstarrt, mit eisigen, angst- oder hasserfüllten Blicken, erhobenen Schwertern und blockenden Schilden.
»Was geht hier vor?«, keuchte Cindiel.
Tastmars Griff lockerte sich. Dann sah er Cindiel an, und sein Blick wanderte weiter, hinunter zu den Rindenbrettern, auf denen sie standen, zwischen den Ritzen hindurch, in das schattige Labyrinth aus Ästen und Stämmen unter der Brücke. Cindiel scheute sich, seinem Blick zu folgen, schon seit frühester Kindheit an saß tief in ihr diese Angst vor dem, was unter der Brücke lauerte. Aber genauso wie ihre Angst es ihr verbot, drängte ihre Neugier sie, diese Finsternis zu ergründen. Ein Augenblick reichte schon, und sie schreckte zurück. Ein Paar gelbe Augen stierte sie aus dem Dunkeln heraus an und schien sie verschlingen zu wollen.
»Der Troll unter der Brücke«, hauchte sie ängstlich.
»Nicht jedes Märchen ist erfunden«, tönte die krächzende Stimme unter der Brücke, »genauso, wie nicht jede Erzählung wahr ist. Manchmal vermischen sich Wahrheit und Lüge miteinander, und alles, was übrig bleibt, ist ein Troll unter einer Brücke.«
»Was willst du von mir, und warum hast du die Zeit angehalten?«
»Ich habe die Zeit nicht angehalten, Liebes. Ich habe sie nur etwas verrückt. Sieh dir deinen tapferen Helden an, er ist damit beschäftigt, am Leben zu bleiben. Wir haben uns nur die Zeit genommen, es genau zu beobachten, denn darin besteht die eigentliche Aufgabe. Jetzt liegt es an dir, zu entscheiden, ob er so langsam stirbt, wie ein Stein vom Wasser rund geschliffen wird, oder ob die Klinge sein Herz schneller durchbohrt, als seine Augen es erfassen können.«
Cindiel wischte sich die Tränen aus den Augen. Der Troll hatte Recht, die Zeit war nicht angehalten, sie verrann nur viel langsamer. Zentimeter um Zentimeter bewegten sich die Männer. So langsam, wie ein Schwert vorzuckte, so langsam wurde auch ein Schild zum Schutz erhoben. Einem der Stadtwachen steckte die Spitze eines Schwertes im Oberschenkel. Cindiel konnte mit ansehen, wie die Klinge sich tiefer in das Fleisch bohrte. Die Augen des Mannes weiteten sich mit der Trägheit einer Blüte, die sich bei den ersten Sonnenstrahlen öffnete, und sein Mund stieß einen stummen Schrei aus. Jetzt erst nahm Cindiel die beiden Söldner, die Finnegan in die Zange genommen hatten, richtig wahr. Der eine beugte sich weit über sein Pferd und zielte mit seiner Klinge auf die Brust ihres Liebsten. Der andere schwang einen Morgenstern in Finnegans Rücken und hatte es auf seinen Kopf abgesehen. Cindiel konnte abermals die Tränen nicht zurückhalten.
»Ich will nicht, dass er stirbt. Was muss ich tun, damit er am Leben bleibt? Ich werde alles tun, was du verlangst.«
»Ich verlange von dir, dass du dich entscheidest, zwischen ihm und dem Funken der Götter.«
»Ich kann ihnen den Stein nicht geben«, schluchzte sie. »Sie würden seine Macht missbrauchen und die Welt nach ihren Vorstellungen formen. Die Götter würden es mir nie verzeihen.«
»Ja«, krächzte der Troll, »mein erster Eindruck von dir war also richtig. Auch Mogda hat sich in der Wahl deiner Person nicht getäuscht. Du bist noch nicht so stark wie deine Großmutter, aber in Weisheit stehst du ihr in nichts nach. Du hast die gleißende Macht des Steines gekostet, und trotzdem hat sie dich nicht verblendet.«
»Wer bist du, dass du das alles weißt?«
Ein leises bösartiges Kichern drang aus den Tiefen der Brücke hervor. »Wir haben uns vor Jahren schon einmal gesehen. Damals wusstest du bereits um die Macht der Steine, doch du hast es Mogda überlassen, sich ihrer anzunehmen. Mogdas Schicksal ist zwar mit dem der Steine verbunden, aber es ist deine Aufgabe, über sie zu wachen. Du kennst mich unter dem Namen Tusfell. Ich lag in Ketten, als ihr mit den Ogern gegen Eliah zogt. Mir und meinem Behüter gelang die Flucht, doch konnten wir das Schicksal damals nicht in die richtigen Bahnen lenken. Diesen Fehler versuche ich jetzt wiedergutzumachen.«
Cindiel erinnerte sich noch genau an die Trollschamanin Tusfell und Nokrat, den Kriegertroll. Schon damals hatten sie
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