Blutmale
Aufmerksamkeit sodann dem Deutschen zuzuwenden.
»Das Zimmer ist schon für sie hergerichtet«, sagte er auf Englisch mit italienischem Akzent.
»Ich werde auch hier übernachten, wenn es recht ist. Er kommt morgen?«
Der ältere Mann nickte. »Ein Nachtflug.«
Wer sollte morgen kommen?, fragte sich Lily. Über eine Treppe mit prächtiger Balustrade gelangten sie in den ers ten Stock. Die Gobelins an den Steinwänden regten sich im Luftzug, als sie vorübergingen, doch sie hatte keine Zeit, die kunstvolle Arbeit zu bewundern. Die Männer trieben sie zur Eile und führten sie durch einen langen Flur, vorbei an Porträts, deren Augen ihr auf Schritt und Tritt zu folgen schienen.
Der ältere Mann schloss eine schwere Eichentür auf und bedeutete ihr einzutreten. Sie fand sich in einem Schlafzimmer wieder, das mit schweren dunklen Möbeln und dicken Samtvorhängen eingerichtet war.
»Das ist nur für heute Nacht«, sagte der Deutsche.
Sie fuhr herum, als ihr plötzlich klar wurde, dass niemand ihr ins Zimmer gefolgt war. »Was passiert morgen?«, fragte sie.
Die Tür fiel ins Schloss, und sie hörte, wie der Schlüssel um gedreht wurde. Sie war eingesperrt.
Warum will mir niemand auch nur eine einzige verdammte Frage beantworten?
Sie war allein. Sofort lief sie zu den schweren Vorhängen und riss sie zur Seite. Dahinter kam ein vergittertes Fens ter zum Vorschein. Sie versuchte mit aller Kraft, die Stäbe auseinanderzustemmen, doch sie waren aus Gusseisen, fest verschweißt mit dem Mauerwerk, und sie war nur ein Mensch aus Fleisch und Blut. Frustriert wandte sie sich ab und sah sich in ihrem samtenen Gefängnis um. Sie erblickte ein riesiges Bett aus geschnitztem Eichenholz mit einem weinroten Himmel darüber. Dann wanderten ihre Augen hinauf zu den Deckenfriesen aus dunklem Holz, den geschnitzten Cheru binen und Weinranken, mit denen die hohe Decke geschmückt war. Es mag ein Gefängnis sein , dachte sie, aber es ist auch mit Abstand das prächtigste Schlafzimmer, in dem ich je übernachten werde. Ein Zimmer, das einem Medici angemes sen wäre.
Auf einem Tisch mit kostbaren Intarsien standen ein abgedecktes Silbertablett, ein Weinglas und eine bereits geöffnete Flasche Chianti. Sie hob den Deckel an und erblickte kalte Aufschnittscheiben, einen Tomaten-Mozzarella-Salat und ungesalzenes toskanisches Brot. Sie goss sich ein Glas Wein ein, hob es an die Lippen und hielt inne.
Warum sollten sie mich vergiften, wenn sie mir ebenso leicht eine Kugel durch den Kopf jagen könnten?
Sie leerte das Glas in einem Zug und schenkte sich nach. Dann setzte sie sich an den Tisch und machte sich über das Essen auf dem Tablett her, riss große Stücke von dem Brot ab und stopfte sie sich in den Mund, spülte alles mit Chianti hinunter. Das Rindfleisch war so zart und so dünn ge schnitten, dass es auf der Zunge zerging. Sie vertilgte alles bis auf den letzten Krümel und trank fast die ganze Flasche Wein. Als sie sich endlich von ihrem Stuhl erhob, waren ihre Be wegungen so schwerfällig, dass sie Mühe hatte, die paar Schritte zum Bett zu wanken. Nicht vergiftet , dachte sie, sondern schlicht und einfach betrunken. So betrunken, dass es ihr schon vollkommen gleichgültig war, was morgen passierte. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, sich auszuziehen, sondern ließ sich einfach mit allen Kleidern auf die Damast-Tagesdecke fallen.
Eine Stimme weckte sie, eine tiefe, unbekannte Männerstimme, die ihren Namen rief. Sie schlug ein schmerzendes Auge auf und blinzelte in das grelle Licht, das durch das vergitterte Fenster fiel. Prompt kniff sie das Auge wieder zu. Wer zum Teufel hatte die Vorhänge aufgezogen? Und wann war ei gentlich die Sonne aufgegangen?
»Ms. Saul, wachen Sie auf.«
»Später«, brummte sie.
»Ich bin nicht die ganze Nacht geflogen, um Ihnen beim Schlafen zuzusehen. Wir müssen reden.«
Sie stöhnte und drehte sich um. »Ich rede nicht mit Männern, die mir ihren Namen nicht sagen.«
»Mein Name ist Anthony Sansone.«
»Sollte ich Sie kennen?«
»Das hier ist mein Haus.«
Nun schlug sie doch die Augen auf. Sie blinzelte den Schlaf weg und drehte den Kopf, um einen Mann mit silbernem Haar zu erblicken, der sie ansah. Selbst in ihrem verkaterten Zustand konnte sie erkennen, dass es sich um einen verflucht gut aussehenden Kerl handelte, trotz der dunklen Ringe um die Augen, die verrieten, dass er offenbar übernächtigt war. Er hatte gesagt, er sei die ganze Nacht geflogen, und sie bezweifelte es
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