Blutmale
genannt haben. Es sieht ein fach wie eine stilisierte Version des Udjat aus, doch es hat tatsächlich eine sehr praktische Verwendung, als mathematisches Symbol nämlich. Jeder Teil des Auges steht für einen Bruch.« Er trug nun verschiedene Zahlen in die Skizze ein:
»Diese Bruchzahlen ergeben sich durch wiederholtes Halbieren des Ausgangswertes. Das ganze Auge steht für die ganze Zahl, die Eins. Die linke Hälfte des Weißen stellt den Bruch 1∕ 2 dar, die ›Wimper‹ steht für 1∕ 32 .«
»Erklären Sie uns vielleicht auch irgendwann noch, was das Ganze mit unserem Fall zu tun hat?«, fragte Jane.
»Aber sicher.«
»Und zwar was?«
»Es könnte sein, dass dieses Auge eine spezifische Bot schaft beinhaltet. Am Tatort des ersten Mordes lag der abgetrennte Kopf in der Mitte eines Kreises. Beim zweiten Mord ist ein Udjat an die Tür gezeichnet. Was, wenn es eine Verbindung zwischen diesen beiden Symbolen gibt? Was, wenn das eine Symbol der Schlüssel zur Interpretation des zweiten sein soll?«
»Sie meinen, ein mathematischer Schlüssel?«
»Ja. Und der Kreis beim ersten Mord stand für ein Element des Udjat.«
Jane betrachtete eingehend Olivers Skizzen, die Zahlen, die er in die verschiedenen Teile des allsehenden Auges eingetragen hatte. »Sie sagen also, dass der Kreis beim ersten Mordfall eigentlich die Iris darstellen sollte.«
»Ja. Und die hat einen bestimmten Wert.«
»Sie meinen, sie steht für eine Zahl? Einen Bruch?« Sie blickte Oliver an und sah, dass er den Oberkörper in ihre Rich tung gebeugt hatte und seine Wangen vor Erregung glühten.
»Genau«, sagte er. »Und welcher Bruch wäre das?«
»Ein Viertel«, antwortete sie.
»Richtig.« Er lächelte. » Richtig. «
»Ein Viertel wovon?«, fragte Frost.
»Oh, das wissen wir noch nicht. Es könnte sich auf den Viertelmond beziehen. Oder auf eine der vier Jahreszeiten.«
»Oder es könnte bedeuten, dass er erst ein Viertel seines Werks verrichtet hat«, warf Edwina ein.
»Ja«, pflichtete Oliver ihr bei. »Vielleicht will er uns sagen, dass wir uns auf mehr Morde gefasst machen müssen. Dass er insgesamt vier geplant hat.«
Jane sah Frost an. »Der Esstisch war für vier Personen gedeckt.«
In der Stille, die auf ihre Bemerkung folgte, wirkte das Klingeln von Janes Handy erschreckend laut. Sie erkannte die Nummer des kriminaltechnischen Labors und meldete sich sofort.
»Rizzoli.«
»Hi, Detective. Hier ist Erin von der Abteilung Mikrospuren. Es geht um diesen roten Kreis, der auf den Küchenboden gezeichnet wurde, Sie erinnern sich?«
»Klar. Wir reden gerade darüber.«
»Ich habe dieses Pigment mit dem verglichen, das bei den Zeichnungen am Tatort auf dem Beacon Hill verwendet wurde. Die Symbole an der Tür. Die Pigmente sind identisch.«
»Unser Täter hat also an beiden Tatorten die gleiche Kreide verwendet.«
»Nun ja, das ist eigentlich der Grund meines Anrufs. Es ist gar keine rote Kreide.«
»Was ist es denn?«
»Etwas sehr viel Interessanteres.«
16
Das kriminaltechnische Labor befand sich im Südflügel des Bostoner Polizeipräsidiums im Schroeder Plaza, nur ein kurzes Stück den Flur hinunter von den Büros des Morddezernats. Jetzt nahmen Jane und Frost diesen Weg, vorbei an Fenstern, hinter denen sich das heruntergekommene Stadtviertel Roxbury ausbreitete. Heute allerdings blieb alles unter ei ner reinen weißen Schneedecke verborgen. Selbst der Himmel war wie blank gewienert, die Luft kristallklar. Aber Jane hatte für die im Sonnenlicht glitzernde Stadtlandschaft nur einen flüchtigen Blick übrig - im Geiste war sie schon in Zimmer S269, dem Labor für Mikrospuren.
Die Kriminaltechnikerin Erin Volchko erwartete sie bereits. Kaum hatten Jane und Frost den Raum betreten, da schwenkte sie ihren Stuhl von dem Mikroskop weg, über das sie sich gebeugt hatte, und griff nach einer Mappe, die auf der Arbeitsfläche lag. »Sie beide schulden mir einen steifen Drink«, sagte sie, »nach der ganzen Arbeit, die ich in diese Sa che gesteckt habe.«
»Das sagen Sie jedes Mal«, erwiderte Frost.
»Diesmal meine ich es aber ernst. Von allen Mikrospu ren, die wir von diesem ersten Tatort hereinbekommen haben, dachte ich, dass wir mit dieser die wenigste Arbeit haben wür den. Stattdessen musste ich Himmel und Hölle in Bewe gung setzen, um herauszufinden, womit dieser Kreis gezeichnet wurde.«
»Und simple Schulkreide ist es jedenfalls nicht.«
»Sie haben's erfasst.« Erin reichte ihr die Mappe. »Schauen Sie mal
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