Blutschande
Eintreffen ihres Chefs. Die sechste starrte ihn abwartend an.
»Sie müssen Liv Moretti sein«, sagte Per Roland etwas verwirrt und ging auf die Frau zu, die sich erhob, bevor sie ihm die Hand gab und ihn höflich anlächelte.
Hübsch, dachte er und schüttelte innerlich gleich darauf den Kopf über diesen absurden Gedanken. Nur mit Mühe gelang es ihm, seinen Blick von dem weichen, braunen Männerhut zu nehmen, der allem Anschein nach ultrakurz geschnittene, platinblonde Haare verdeckte. Doch damit nicht genug, denn auch ihre gestreifte Clownshose mit den weißen Hosenträgern und ihr ärmelloses, rotes T-Shirt zogen seine Blicke wie magisch an. Nie zuvor hatte er einen Menschen getroffen, der in einem Polizeirevier derart deplatziert gewirkt hatte. Wie konnte sie in dieser Aufmachung Respekt erwarten und die Staatsmacht repräsentieren? Die Frau war etwa dreißig bis zweiunddreißig Jahre alt, wenn ihr magerer Körper auch eher wie der eines fünfzehnjährigen Jungen wirkte. Per Roland, der einmal verheiratet gewesen war und zwei Kinder mit einer gazellenartigen Göttin mit schwingenden Hüften und großen, wohlgeformten Brüsten hatte, stand nun wirklich nicht auf fünfzehnjährige Jungen, oder Mädchen, die wie Jungs aussahen.
»Moretti?« Es war Anette, die Psychologin des Teams, die seine Gedanken unterbrach. »Das klingt italienisch.«
Miroslav lachte laut.
»Echt? Heißt du wirklich so?«
Liv starrte ihn regungslos an.
»Wie Willie Moretti ?«, fragte er und erläuterte mit betont tiefer Stimme: »Der Gangsterboss in New York.«
Liv sah ihn etwas herablassend an.
»Der Name ist in Italien ziemlich häufig.«
Betroffene Stille breitete sich im Raum aus, als warteten alle darauf, dass sie noch mehr sagte oder vielleicht von italienischen Wurzeln erzählte, die – trotz ihrer platinblonden Haare – ihren dunklen Teint erklärten.
»Okay«, begann Per Roland, als sie vergeblich gewartet hatten. »Eines vorab, ich schlage vor, dass wir uns hier im Team alle duzen, ist das für Sie in Ordnung, Frau Moretti?«
Liv nickte.
»Also«, fuhr Roland fort. »Die meisten von euch wissen, um was es geht. Ein elfjähriges Mädchen ist verschwunden, ihr Name ist Cecilie. Wir haben schon Tag zwei. Um präzise zu sein …«, er sah auf seine Armbanduhr, »vor genau 28 Stunden verließ sie ihr Elternhaus am Strandvej in Espergærde, winkte ihrer Mutter noch einmal zu und radelte zur …« Per Roland wühlte durch die Papiere, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte, fand das richtige Blatt und vollendete seinen Satz: »Zur Espergærde-Schule. Sie ist dort seit den Sommerferien, und der Unterricht der 5b sollte um 8.10 Uhr beginnen.«
Er ließ den Blick über seine Leute schweifen.
»Du musst mich korrigieren, wenn ich etwas Falsches erzähle«, sagte er an Liv gewandt und wartete, ob sie etwas hinzufügen wollte. Als sie weiter schwieg, fuhr er fort:
»Wie ihr euch vielleicht schon gedacht habt, hat Liv Moretti, sie ist Kommissarin der Polizeibehörde Nordseeland, von Beginn an, also seit dem Eingang der Vermisstenanzeige gestern Mittag, in diesem Fall ermittelt. Die Schule hatte die Eltern angerufen, weil Cecilie nicht gekommen war, weil das ganz ungewöhnlich für das sonst so pflichtbewusste Mädchen war. Die Eltern machten sich natürlich sofort Sorgen und haben gleich die Eltern von Cecilies Freundinnen angerufen. Da niemand von ihnen Cecilie gesehen hatte, riefen sie die Polizei an.«
Roland unterbrach sich selbst und lächelte die Gruppe an. »Aber vielleicht sollten wir uns alle erst mal vorstellen«, sagte er dann. »Du kannst ja den Anfang machen und ein paar Worte über dich sagen, bevor wir dann von einem zum anderen weitergehen«, schlug er Liv vor, die ihn ansah, als wäre er ein Idiot. Und im Moment fühlte er sich auch so.
Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen.
»Hallo, mein Name ist Liv, und ich bin Alkoholikerin«, sagte sie dann.
Alle lachten, Roland eingeschlossen, auch wenn er es zu verbergen suchte.
»Nur kurz, danke«, sagte er und stellte überrascht fest, dass Liv mit dieser einen Bemerkung Zugang zu der ansonsten so eingeschworenen Gruppe gefunden hatte.
»Ich gehöre, wie schon gesagt, der hiesigen Ermittlungsbehörde an. Ich bin hier seit fünf Jahren. Ansonsten bin ich in Espergærde aufgewachsen, sogar in der gleichen Straße wie Cecilie. Man kann also sagen, dass ich Ortskenntnis besitze«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, das ihre sonst sehr sachliche Miene
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