Bluttrinker (German Edition)
benötigte er jede Faser seiner Selbstbeherrschung, um
aufrecht stehen zu bleiben. Er weigerte sich, dem Instinkt nachzugeben, der ihn
zwingen wollte, sich zusammenzukrümmen, in dem sinnlosen Versuch, wenigstens
die Angriffsfläche der Sonne zu verringern.
Vermummte Gestalten bewegten sich um ihn herum. Wächter in
Schutzkleidung, die an schwarze Raumanzüge erinnerte, befreiten vier seiner
Leidensgenossen. Eine Stunde war vergangen.
Panik ergriff ihn. Weitere fünf Stunden! Seine Instinkte
suchten fieberhaft einen Ausweg.
Er hatte sich diese Qual selbst auferlegt. Stand es ihm nicht zu, sie auch zu
beenden? Würden die Wachen Jeremias holen, wenn er sie darum bat?
Neben sich hörte er Jans flehende Stimme. Er verstand nicht,
was er sagte, nur die unbeteiligt klingende Antwort des Wächters.
„Vergiss es, Junge! Der Jäger hat sechs Stunden angeordnet.“
Die Stimme klang verzerrt durch den Helm. Dann sprach der Wächter direkt neben
seinem Ohr.
„Was ist mit Dir?“
Lukas zwang sich seine Augen zu öffnen, aber er sah nur einen dunkleren
Schatten vor dem grellen Gleißen. Er schüttelte den Kopf. Als die Tür sich
hinter den Männern wieder schloss, hörte er Jan aufschreien. Der verzweifelte
Laut eines verwundeten Tiers in der Falle.
Jan ist schwach , überlegte er. Er hatte sich zu
Handlungen verleiten lassen, von denen er wusste, dass sie falsch waren. Peter
war stärker, aber überheblich. Er verachtete die Sterblichen und verspürte
wenig Schuldbewusstsein angesichts ihres Todes. Umso größer war sein Zorn über
die seiner Meinung nach überzogene Strafe.
Und er selbst? Was, bei allen Geistern der Hölle, tat er
hier? Warum, zum Teufel, hatte er nicht eine Stunde vorgeschlagen, als Jeremias
ihn fragte?
Weil er jedes Mal, wenn er seine Augen schloss, den zerschmetterten Körper des
Mädchens vor sich sah. Ebenso verfolgte ihn Ricardos von Blutgier gezeichnetes
Gesicht. Dabei hatte Lukas geglaubt, den Freund in und auswendig zu kennen.
Gewiss, Ricardo schien immer in irgendwelchen
Schwierigkeiten zu stecken. Er zog Ärger magisch an und hatte Lukas in früheren
Jahren regelmäßig mit hineingezogen. Er konnte die Disziplinarmaßnahmen, die
Jeremias ihnen beiden aufgebrummt hatte, kaum zählen. Irgendwann wurden sie
vernünftiger. Oder war nur Lukas besonnener geworden, ließ sich nicht mehr zu
jeder Dummheit aufstacheln? Ricardo begann, mehr Zeit mit Jan und Peter zu
verbringen, während Lukas sich ernsthaft auf seine Ausbildung konzentrierte.
Wann war aus seinem Freund, der zugegebenermaßen nichts als
Unfug im Kopf hatte, ein menschenverachtender Abtrünniger geworden? Hatte es
Vorzeichen gegeben, die er hätte deuten können, wenn er nur aufmerksamer
gewesen wäre? Er konnte sich einfach nicht von der quälenden Vorstellung lösen,
dass er es hätte verhindern können!
Den Tod des zweiten Mädchens hatte er nicht mit ansehen müssen. Aber er wusste
nicht, ob er die Erinnerung an ihre panische Frucht, die ihn in seine Träume
verfolgte, je wieder loswurde.
Ricardo brauchte diese entsetzliche Angst, um sich zu sättigen. Das war es, was
einen Abtrünnigen von anderen Bluttrinkern unterschied.
Sie alle nährten sich nicht nur von Blut, sondern ebenso von den Emotionen und
Empfindungen ihrer Wirte. Deshalb war Sex oft ein Bestandteil des Trinkens. Sie
nahmen die Lust der Sterblichen in sich auf, wie sie es mit ihrem Blut taten,
nährten sich auch auf einer emotionalen Ebene.
Manche Bluttrinker hatten es nicht auf den Genuss ihrer Wirte abgesehen. Lukas
verstand dieses Verhalten nicht, denn der Schmerz und die Angst der Menschen
bereiteten ihm regelrechte Qualen. Er wusste allerdings, dass viele seiner
Mitschüler gelegentlich damit experimentiert hatten. Nicht in dem Ausmaß, wie
Peter es mit diesem Feuerzeug getan hatte. Die meisten beschränkten sich
darauf, ihre Opfer ihre Zähne sehen zu lassen, oder ihnen anderweitig Angst
einzujagen. Solche Spielchen waren gefährlich. Das hatte man ihnen immer wieder
eingeschärft. Wie ernst diese Warnung zu nehmen war, hatte nicht einmal Lukas
sich bisher vorzustellen vermocht.
Wie weit musste Ricardos Wahnsinn fortgeschritten sein, dass
er, nach der Verzweiflungstat des ersten Mädchens, ihre Freundin vor Jans und
Peters Augen vergewaltigte und aussaugte, bis sie am Blutverlust starb?
Jan und Peter wurden für ihre Untätigkeit angesichts dieser Szene so hart
bestraft. Und es war eine harte Strafe!
Nicht einmal seine Schuldgefühle vermochten Lukas noch von
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