Böse Freundin (German Edition)
Celia nur von sich selbst kannte.
«Ich hätte nicht gedacht, dass ich dir das je erzählen würde», sagte Noreen. «Ich war mir sicher, dass du mich dafür hassen würdest. Eine Mutter muss sich ihren Kindern ja immer von der besten Seite zeigen. Aber du bist jetzt erwachsen, und das Ganze geht mir bis heute im Kopf herum.»
Einen Augenblick lang gab es in dem Raum nur sie zwei.
«Deine Mutter ist zu streng mit sich», sagte Warren. «Sie hat schrecklich gelitten wegen Djuna, und auch wegen Djunas Mutter und all dem, was die arme Frau durchmachen musste.»
«Das wünscht man seinem ärgsten Feind nicht», sagte Noreen. «Es war wirklich eine Schande, dass die Gemeinde Grace so die kalte Schulter gezeigt hat.» Sie schüttelte den Kopf. «Dass ich das getan habe.»
«Lass gut sein, Nor. Das ist Schnee von gestern», sagte Warren, doch der Blick seiner Frau hing an Celia.
«Sie hat einmal angerufen», sagte Noreen. «Vielleicht eine Woche nach Djunas Verschwinden. Als ich nach Hause kam, war eine Nachricht von ihr auf dem Anrufbeantworter. Es war das erste Mal, dass sie nicht hundertprozentig von sich überzeugt klang.»
«Wen wollte sie sprechen?», fragte Celia fast unhörbar.
«Mich, das hat sie jedenfalls gesagt», erwiderte Noreen, «aber gefragt hat sie nach dir. Sie wollte wissen, wie es dir geht, ob du halbwegs schlafen und essen kannst. Ich habe sie nie zurückgerufen.»
Draußen wurde es dunkel, und die Straßenlaternen gingen mit einem Flackern an. Früher hatte es an jeder Zufahrt eine Propangasleuchte gegeben – ein gelb schimmernder Pfad, der den Heimweg wies.
«Wie lange sind sie noch dageblieben?», fragte Celia.
«Wer?»
«Djunas Eltern», sagte Celia. «Wie lange sind sie danach noch in dem Haus geblieben?»
Noreen wiegte den Kopf. «Sechs Monate? Neun vielleicht? Wenn du es genauer wissen willst, kann ich –»
«War nur eine Frage», sagte Celia. «Beim Vorbeifahren habe ich gesehen, dass es anders gestrichen ist.»
«Das Haus ist schon lange so», sagte Noreen. «Nachdem Grace weggezogen ist –»
«Sie steht im Telefonbuch», sagte Celia. «Ich hab sie sofort gefunden, aber ich wollte erst mit den anderen Kontakt aufnehmen, damit ich Mrs. Pearson erklären kann, dass ich allen die Wahrheit gesagt habe. Wobei Becky und Josie, als ich ihnen erzählt habe, was wirklich passiert ist, beide meinten, sie hätten ein Auto gesehen.»
«Das heißt, sie –», setzte Noreen an.
«Sie glauben mir auch nicht.» Celia versuchte die drei Gesichter zu ignorieren, in denen die Anspannung der Erleichterung wich.
Warren beugte sich vor, und die Aussicht auf eine seiner zusammenhanglosen, nervösen Tiraden über Autos oder Musik stimmte Celia ausnahmsweise froh. Sie begann die Sekunden zu zählen, bis sie vom Tisch aufstehen konnte, ohne unhöflich zu wirken.
«Schon seltsam, woran Menschen sich erinnern und woran nicht», sagte er stattdessen. «Ich habe Jem einmal gefragt, ob er noch etwas von diesem letzten Tag in seinem Zimmer weiß.» Er schwieg einen Moment. «Darüber haben du und ich nie gesprochen, Cee Cee. Ich wollte es immer, aber es schien nie der richtige Zeitpunkt zu sein.»
Er sah Noreen an. Sie nickte, und etwas in Celias Vater löste sich.
«Dein Bruder hat mir erzählt, er wüsste noch, dass er sich auf dem Fußboden hat liegen sehen», sagte Warren. «Eine außerkörperliche Erfahrung, so nennt man das wohl, und es war etwas völlig Neues für ihn. Offenbar fand er es gar nicht mal unangenehm, aber ihm war klar, dass irgendwas nicht stimmte, weil er nichts spürte. Es war kein Gefühl von Taubheit, sondern so, als hätte er nicht das Geringste mit der Person zu tun, die er da sah. Er hat sich gefragt, ob er stirbt oder vielleicht schon tot ist. Dann hat er gehört, dass jemand seinen Namen ruft, und im nächsten Moment kam der Greif zu ihm ins Zimmer. Laut Jem war er so groß wie ein Mensch, mit goldenen Flügeln und einem goldenen Schwanz. Zuerst hat Jem sich gefürchtet, weil er dachte, das hieße vielleicht, er wäre tatsächlich tot. Aber dann spürte er, wie er vom Boden emporgehoben wurde. Und dann …» Warrens Blick war gesenkt, seine Schultern zuckten, und er holte ein paar Mal tief Luft. «Und dann», fuhr er fort, «hat er zu mir gesagt, er hat mich sehr lieb, aber für ihn wird es immer der Greif sein, der ihn gerettet hat. Ich hab ihm geantwortet, es wäre mir ganz egal, was er da an dem Tag in sein Zimmer hat kommen sehen. Hauptsache, es geht ihm wieder
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