Boomerang
keiner trödelt. Die Fahrer betanken ihre Autos mit der Effizienz eines Boxenteams der Formel 1. Aufgrund dieser altertümlichen Anordnung der Zapfsäulen vermutet Charlotte, dass wir uns im früheren Westdeutschland befinden. »So was würde man im Osten nicht sehen«, meint sie. »Im Osten ist alles neu.«
Sie behauptet, sie könne es einem Menschen von weitem ansehen, ob er aus dem Osten oder dem Westen kommt, vor allem den Männern. »Die Westdeutschen sind stolzer. Sie stehen aufrecht. Die Ostdeutschen lassen sich eher hängen. Die Westdeutschen meinen, dass alle Ostdeutschen faul sind.«
»Das heißt, die Ostdeutschen sind die Griechen Deutschlands«, folgere ich messerscharf.
»Vorsicht!«, erwidert sie.
Von Düsseldorf fahren wir nach Leipzig, wo ich in einen Zug nach Hamburg steige, um dort meine Schlamm-Catcherinnen zu besuchen. Unterwegs durchforstet Charlotte ihre |187| Muttersprache nach Hinweisen auf die angebliche anale Fixierung der Deutschen.
Beschissen
.
Klugscheißer
.
Geldscheißer
. Sie zählt ein paar Beispiele auf, die ihr spontan einfallen, Irgendwann unterbricht sie sich, um der Theorie des deutschen Charakters keine weitere Nahrung zu geben.
»Das sind einfach nur Wörter«, meint sie. »Das bedeutet nicht, dass die Theorie stimmt.«
Etwas außerhalb von Hamburg essen wir auf einem Bauernhof zu Mittag. Wir sind zu Besuch bei einem Mann namens Wilhelm Nölling, einem renommierten Wirtschaftswissenschaftler, der inzwischen über siebzig ist. Als der Euro aus der Taufe gehoben wurde, war er Mitglied des Zentralbankrates der Deutschen Bundesbank. Nölling hat von Anfang an gegen den Euro gewettert. Er verfasste ein Pamphlet mit dem Titel
Die Euro-Illusion
und reichte mit drei anderen führenden Wirtschafts- und Währungsexperten eine Verfassungsklage gegen die Einführung der europäischen Währungsunion ein. Kurz vor Einführung des Euro forderte Nölling die Bundesbank auf, die alten D-Mark-Scheine noch aufzuheben. »Ich hab gesagt, werft sie nicht in den Schredder!«, ruft er und springt aus seinem Sessel auf. »Hebt sie auf, steckt sie in einen Safe, vielleicht brauchen wir sie später noch mal!«
Aber er weiß, dass er gegen Windmühlen ankämpft. »Lässt sich das noch mal zurückdrehen?«, fragt er. »Wir wissen, dass das nicht geht. Selbst wenn sie sagen, stimmt, du hast Recht, was passiert dann? Das ist die Hundert-Milliarden-Euro-Frage.« Nölling meint, die Lösung zu haben, aber er glaubt nicht, dass die Deutschen dazu bereit sind. Zusammen mit den anderen Euro-Dissidenten hat er vorgeschlagen, die Europäische Währungsunion zu teilen. Pleitekandidaten wie Griechenland, Portugal, Spanien, Italien und so weiter bekommen |188| die eine Version des Euro, und »die homogenen Länder, auf die man sich verlassen kann«, die andere. Wen er damit meint? Deutschland, Österreich, Belgien, die Niederlande, Finnland und (hier zögert er einen Moment lang) Frankreich.
»Sind Sie sich bei den Franzosen so sicher?«
»Wir haben darüber diskutiert«, antwortet er ernsthaft. Aber aus politischen Gründen könne man Frankreich nicht ausschließen. Es wäre zu peinlich.
Am Rande der Verhandlung über den Vertrag von Maastricht, in dem die Schaffung des Euro beschlossen wurde, soll der französische Präsident François Mitterrand in einem privaten Gespräch gesagt haben, wenn Deutschland auf diese Weise an Europa gekettet würde, dann wären Ungleichgewichte und damit Krisen unvermeidlich. Aber bis es so weit sei, liege er längst unter der Erde und andere würden sich darum kümmern müssen. Wer weiß, ob er das wirklich gesagt hat, aber gedacht hat er es sicher. Schon damals erkannten viele, dass diese Länder nicht zusammengehören.
Aber warum um alles in der Welt ließen sich so intelligente, erfolgreiche, ehrliche und gut organisierte Menschen wie die Deutschen in dieses Chaos hineinziehen? Sie hatten alle Fragen abgehakt, um ganz sicher zu gehen, dass der Inhalt des Pakets in Ordnung war, aber sie bemerkten nicht, dass es aus diesem Paket ganz furchtbar stank. Nölling meint, schuld sei der Charakter der Deutschen. »Wir haben den Vertrag von Maastricht unterzeichnet, weil er so viele schöne Regeln hatte«, meint er, als wir in die Küche gehen und uns weißen Spargel auf die Teller laden. »Wir sind den falschen Versprechungen auf den Leim gegangen. Die Deutschen sind einfach ein leichtgläubiges Volk. Sie vertrauen und glauben. Sie
wollen
vertrauen. Sie
wollen
glauben.«
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