Borderlands
Abend mit Angela zusammen war. Wir überprüfen das noch mal, mal
sehen, ob er gelogen hat oder nicht. In der Zwischenzeit gehe ich zu einer
Totenwache.«
»Wessen
Totenwache?«
»Angela Cashells.
Die Familie hat ihre Leiche vorgestern zurückbekommen. Morgen soll sie beerdigt
werden. Ich möchte Sadie Cashell vorher noch einmal sprechen.«
»Ist es dafür
nicht ein bisschen früh? Es ist erst kurz nach zehn.«
»Der Morgen
ist die beste Zeit für uns; die Chance, dass sich da eine Prügelei
zusammenbraut, ist dann kleiner.« Ich nahm meine Schlüssel. »Wollen Sie mit?«
»Machen Sie
Witze?«, gab sie zurück und griff nach ihrem Mantel.
Die Totenwache hat eine lange Tradition in
Irland. Die Leiche wird vor der Beerdigung zwei Nächte lang aufgebahrt.
Nachbarn und Freunde versammeln sich – vorgeblich, um dem Toten die letzte Ehre
zu erweisen, doch gelegentlich verwandelt sich die Totenwache auch in eine
Party. Die Trauernden machen Bemerkungen über das gute Aussehen des Toten, als
wäre er oder sie gar nicht tot. Teller mit Zigaretten werden herumgereicht wie
Sandwiches. Irgendwann wird der Whiskey geöffnet und unter den Trauernden
herumgereicht; irgendjemand holt eine Blechflöte oder eine Geige hervor, und
das Ganze verwandelt sich in ein ausgewachsenes Ceilidh – eine traditionelle
Tanzveranstaltung –, bei dem die Leute Jigs und Reels um den Sarg herum tanzen
und ihre leeren Gläser auf dem weißen Satinfutter abstellen.
Am nächsten Morgen riecht das Haus wie ein
Pub, den man vergessen hat zu lüften. Gebrauchte Teetassen werden eingesammelt
und gespült; Sandwiches werden für den kommenden Abend zubereitet, der verspricht, noch
bunter zu werden als der vorhergehende.
Sadie Cashell
saß am Sarg ihrer Tochter, als wir das Haus betraten, und trotz der frühen
Stunde saßen drei Nachbarn bei ihr. Ich gab ihr meine Totenmesskarte, die ich
unterwegs von Father Brennan hatte unterzeichnen lassen, sprach ihr mein
Beileid aus und trat neben den Sarg, wo ich drei Ave Marias für die Erlösung
der Seele von Angela Cashell sprach. Sadie beugte sich über den Sarg, strich
Angela eine blonde Locke aus dem Gesicht und rückte die Rüschen des Totenhemds
am Hals zurecht. Ich beendete meine Gebete und legte die Hand sanft auf Angelas
Hände, die vor dem Körper gefaltet waren, verwoben mit einem Rosenkranz. Ihre
Haut war kalt und hart, beinahe wie Wachs. Ihre Miene war von heiterer
Gelassenheit, engelsgleich. Als ich sie zuletzt gesehen hatte, hatte sie auf
einem Bett aus Laub und feuchtem Moos gelegen, und der Winterhimmel hatte sich
in ihren blicklosen Augen gespiegelt. Der jetzige Anblick war deutlich
angenehmer.
Ich setzte
mich neben Sadie auf einen der harten Holzstühle, welche die Nachbarn ihr
geliehen haben mussten, und reichte ihr eine kleine Flasche Bushmills, die ich
außerhalb der Ladenöffnungszeiten in McElroy’s Bar gekauft hatte.
Sie nahm meine
Hand in ihre beiden ein wenig zitternden Hände und rieb mir mit dem Daumen über
den Handrücken. Sie sagte mir, man habe Johnny für die Totenwache nicht
freigelassen, er hoffe jedoch, zur Beerdigung wieder da zu sein. Sie erzählte
mir, wie die anderen Mädchen es aufgenommen hatten. Muire war am Tag zuvor
fortgelaufen, doch ein Nachbar hatte sie gefunden; sie war auf dem Weg nach
Strabane gewesen. Dann fragte Sadie, ob wir jetzt wüssten, wer ihr ihre Tochter
genommen hätte. Ich erwiderte, wir nähmen es an. Ich fügte hinzu, wenn sie an
Gott glaubte, würde er bereits seine gerechte Strafe erhalten. Sie lächelte und
packte meine Hand fester.
»Sadie«, sagte
ich. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Es geht um den Ring, den Angela
getragen hat. Haben Sie den?«
»Warum?«
»Hören Sie,
Sadie, ich weiß, er hat nicht ihr gehört, aber das ist mir egal. Behalten Sie
ihn ruhig. Aber ich würde ihn mir gerne für ein, zwei Tage ausborgen. Ich
glaube, er könnte etwas mit dem zu tun haben, was ihr zugestoßen ist.«
Zunächst
schien sie dazu nicht bereit zu sein, doch schließlich willigte sie ein, löste
sich widerstrebend vom Sarg ihrer Tochter und verließ den Raum. Ich hörte sie
nach oben gehen und dann ihre Schritte über uns. Gleich darauf kehrte sie mit
dem Ring zurück, der immer noch in dem versiegelten Plastikbeutel war, in den
ihn die Rechtsmedizinerin gesteckt hatte. Wortlos reichte sie ihn mir und
setzte sich wieder neben ihre Tochter.
»Haben Sie ihn
angefasst, Sadie?«, fragte ich. »Seit Sie ihn zurückhaben, meine ich.
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