Boris Pasternak
reifte kontinuierlich wie
ein vom Baum gepflückter Apfel, der sich immer mehr mit Süße und mit Sinn
füllt.«
»Erste
Vorboten des Frühlings, Tauwetter. Die Luft riecht nach Plinsen und Wodka wie
in der Butterwoche, wie der Kalender sie spielerisch nennt. Schläfrig, mit
buttrigen Augen blinzelt die Sonne im Wald, schläfrig zwinkert der Wald mit den
Wimpern der Nadeln, buttrig blinken mittags die Pfützen. Die Natur gähnt,
streckt sich, wälzt sich auf die andere Seite und schläft wieder ein.
Im
siebenten Kapitel des >Eugen Onegin< ist Frühling, das Herrenhaus steht
nach Onegins Abreise leer. Drunten am Wasser, am Fuß des Hügels, liegt Lenskis
Grab.
>Da
lockt der Nachtigall Gekose Den Lenz; da blüht die Heckenrose.<
Warum
Gekose? Doch eigentlich ist dieses Bild natürlich und passend. Wirklich,
Gekose. Außerdem reimt sich das Wort auf >Heckenrose<. Aber vielleicht
ist das lautliche Vorbild auch der >Räuber Nachtigall< aus der Byline? In
der Byline heißt er Räuber Nachtigall, Odichmantis Sohn. Wie schön wird da von
ihm gesprochen!
Macht er
es, macht's der Schlag der Nachtigall, Macht er es, macht's der Schrei des
wilden Tiers, Daß Gräser, Emsen eilig sich verkriechen, Daß blaue Blütenblätter
niederrieseln, Im dunklen Wald die Bäume sich verneigen Und alle Menschen tot
zu Boden sinken?
Wir sind
bei Frühlingsanfang in Warykino eingetroffen. Bald war alles grün, besonders in
der Schutma, der Schlucht unterhalb von Mikulizyns Haus - Faulbaum, Erle,
Haselnuß. Ein paar Nächte danach schlugen die Nachtigallen.
Und
wieder, als hörte ich sie zum erstenmal, staunte ich, wie sich ihr Gesang von
den anderen Vogelstimmen unterschied, was für einen jähen Sprung die Natur zu
dem Reichtum und der Einmaligkeit dieses Schlags vollführt hat. Welche Vielfalt
im Wechsel der Triller, welche Kraft in dem klaren, weithin schallenden Laut!
Bei Turgenjew sind irgendwo diese Strophen beschrieben — Waldgeistpfeife,
Lerchentriller. Besonders auffallend zwei Wendungen: ein häufiges, gieriges und
überfließendes >tiok-tiok-tiok<, mitunter dreimalig, mitunter ungezählt.
Als Antwort darauf schüttelt das Gebüsch die Tautropfen ab, wird schöner,
erschauert wie gekitzelt. Die zweite Wendung zerfällt in zwei Silben, rufend,
zu Herzen gehend, flehend wie eine Bitte oder eine Mahnung: >Wach auf. Wach
auf! Wach auf!<«
»Frühling.
Wir bereiten uns auf die Gartenarbeit vor. Für das Tagebuch ist keine Zeit
mehr. Die Aufzeichnungen haben mir aber Spaß gemacht. Jetzt muß ich sie auf den
Winter verschieben.
Vor ein
paar Tagen, diesmal wirklich in der Butterwoche, als sämtliche Wege aufgeweicht
waren, fuhr ein Schlitten durch Wasser und Schlamm in den Hof und brachte einen
kranken Bauern. Natürlich lehnte ich ab, ihn zu behandeln. >Sei mir nicht
böse, mein Lieber, ich beschäftige mich nicht mehr damit, ich habe keine
Medikamente und auch nicht die nötigen Geräte.< Aber damit ließ er sich
nicht abspeisen. >Hilf mir. Meine Haut ist krank. Sei barmherzig. Es kommt
von innen.<
Was tun?
Mein Herz ist nicht aus Stein. Ich überlegte es mir anders. >Zieh dich
aus.< Ich untersuchte ihn. >Du hast Lupus.< Während ich mich mit ihm
abgab, warf ich einen Blick zum Fenster, wo die große Flasche mit Karbolsäure
steht. (Gott der Gerechte, man frage mich nicht, wo ich sie und anderes
Notwendige her habe! Alles von Samdewjatow.) Wie ich so hinaussah, kam ein anderer
Schlitten in den Hof, wieder mit einem Patienten, wie ich zunächst glaubte.
Darin saß, wie vom Himmel gefallen, mein Bruder Jewgraf. Für einige Zeit wurde
er vom ganzen Haus, von Tonja, Saschenka und meinem Schwiegervater mit Beschlag
belegt. Als ich wieder frei war, gesellte ich mich dazu. Das Ausfragen begann —
wie, woher? Und wie gewöhnlich antwortete er ausweichend, nichts Direktes,
Lächeln, Wunder, Rätsel.
Er war
fast zwei Wochen unser Gast, fuhr des öfteren nach Jurjatin und verschwand dann
plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. In dieser Zeit habe ich bemerkt, daß er
noch einflußreicher als Samdewjatow ist, aber von seinen Aufgaben und
Verbindungen weiß ich noch weniger. Wo kommt er her? Woher hat er diese Macht?
Was treibt er? Vor seinem Verschwinden versprach er, uns die Wirtschaft zu
erleichtern, damit Tonja mehr Zeit hat für Saschenkas Erziehung und ich mehr
Zeit für die Medizin und die Literatur. Wir fragten, was er dazu tun wolle.
Wieder lächelndes Schweigen. Aber er hat uns nicht getäuscht. Es
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