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Boris Pasternak

Boris Pasternak

Titel: Boris Pasternak Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr Shiwago
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gibt
Anzeichen, daß sich unsere Lebensbedingungen wirklich ändern.
    Erstaunlich!
Er ist mein Stiefbruder und trägt den gleichen Namen wie ich. Dabei kenne ich
ihn eigentlich weniger als jeden anderen.
    Schon das
zweite Jahr wirkt er in meinem Leben wie ein guter Genius, wie ein Retter in
der Not, der alle Schwierigkeiten beseitigt. Vielleicht gibt es im Leben jedes
Menschen eine geheime Kraft, eine fast symbolische Person, die ungerufen zu
Hilfe kommt, und vielleicht spielt diese wohltätige Rolle bei mir mein Bruder
Jewgraf.«
    Damit
enden die Aufzeichnungen Juri Shiwagos. Er hat sie nicht fortgesetzt.
     
    Im
Lesesaal der Jurjatiner Stadtbibliothek sah Juri Shiwago die bestellten Bücher
durch. Der Saal mit den vielen Fenstern faßte etwa hundert Menschen und hatte
mehrere Reihen langer Tische, deren Schmalseiten den Fenstern zugewandt waren.
Mit Anbruch der Dunkelheit wurde der Saal geschlossen. Im Frühjahr war die
Stadt abends nicht beleuchtet. Aber Juri Shiwago saß ohnehin nie bis zur
Dämmerung, er blieb nicht einmal über die Mittagszeit hinaus. Das Pferd, das
ihm die Mikulizyns gaben, ließ er im Ausspannhof bei Samdewjatow, dann las er
den ganzen Vormittag und ritt in der zweiten Tageshälfte zurück nach Warykino.
    Bevor er
die Bibliothek zu besuchen begann, war er selten in Jurjatin gewesen. Er hatte
in der Stadt nichts zu tun, kannte sie auch schlecht. Wenn sich der Saal nach
und nach mit Jurjatiner Einwohnern füllte, die sich teils weiter weg, teils
neben ihn setzten, hatte er das Gefühl, die Stadt kennenzulernen, als stünde er
an einer belebten Kreuzung, und ihm schien, als strömten hier nicht Leser
zusammen, sondern die Häuser und Straßen, in denen sie lebten.
    Aber auch
das wirkliche Jurjatin war durch die Fenster zu sehen. Bei dem mittleren,
größten Fenster stand ein Behälter mit abgekochtem Wasser. Wenn die Besucher
des Lesesaals eine Pause machen wollten, gingen sie im Treppenhaus rauchen oder
umstanden den Behälter, tranken Wasser, kippten die Neige ins Spülgefäß und
betrachteten durchs Fenster die Stadt.
    Es gab
zwei Arten von Lesern, alteingesessene Einwohner, die zur Intelligenz zählten,
das war die Mehrzahl, und Leute aus dem einfachen Volk.
    Die
Erstgenannten, zumeist ärmlich gekleidete Frauen, die nicht mehr auf sich
hielten und ungepflegt aussahen, hatten ungesunde, spitze Gesichter, die
gedunsen wirkten von Hunger, Gallenleiden oder Wassersucht. Sie waren ständige
Besucher, kannten die Bibliotheksangestellten persönlich und fühlten sich hier
wie zu Hause.
    Die Leute
aus dem Volk hatten schöne gesunde Gesichter, waren festlich angezogen,
betraten den Saal schüchtern und verlegen wie eine Kirche und verhielten sich
lauter als üblich, nicht weil sie die Ordnung nicht kannten, sondern eben weil
sie lautlos sein wollten und doch ihre gesunden Schritte und Stimmen nicht zu
dämpfen vermochten.
    Gegenüber
den Fenstern hatte die Wand eine Vertiefung. In dieser Nische, deren Fußboden
erhöht und durch eine Barriere vom übrigen Saal getrennt war, gingen die
Angestellten ihrer Tätigkeit nach, der Bibliothekar und zwei Gehilfinnen. Die
eine von ihnen, übellaunig, in einem Wollkleid, nahm fortwährend den Zwicker ab
und setzte ihn wieder auf, offensichtlich nicht, um besser zu sehen, sondern
wegen ihrer wechselnden Stimmungen. Die andere, die eine schwarze Seidenbluse
trug, hatte es wohl auf der Brust, denn sie hielt ständig ein Taschentuch vor
Mund und Nase, durch das sie auch sprach und atmete.
    Die
Mitarbeiter der Bibliothek hatten ebenso spitze und dabei gedunsene Gesichter
wie die Hälfte der Leser, eine ebenso schlaffe, faltige Haut, grünlich und
erdfarben wie Salzgurken oder Schimmel. Alle drei taten abwechselnd das
gleiche, nämlich sie erläuterten Neulingen flüsternd die Regeln für die
Benutzung der Bücher, sortierten Bestellzettel, gaben Bücher aus und nahmen sie
entgegen und arbeiteten zwischendurch an irgendwelchen Jahresberichten.
    Und
merkwürdig, durch eine unbewußte Gedankenverbindung mußte Shiwago angesichts
der wirklichen Stadt vor den Fenstern und der Phantasiestadt im Saal, aber auch
wegen der allgemeinen leblosen Gedunsenheit, als ob alle einen Kropf hätten, an
die mißmutige Weichenstellerin am Morgen ihrer Ankunft in Jurjatin denken, an
das Panorama der Stadt aus der Ferne, an den neben ihm im Waggon sitzenden
Samdewjatow und an seine Erklärungen. Diese Erklärungen weit draußen vor der
Stadt wollte er mit dem verbinden, was er jetzt aus

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