Boris Pasternak
darauf, zu gefallen, schön und gewinnend zu sein, dachte
er. Sie verachtet diese Seite des weiblichen Wesens und hadert gleichsam mit
sich wegen ihrer Schönheit. Diese stolze Feindseligkeit gegen sich selbst macht
sie noch zehnmal anziehender.
Wie schön
ist alles, was sie tut. Sie liest, als wäre das nicht die höchste Tätigkeit des
Menschen, sondern etwas ganz Einfaches, was auch Tiere können. Als ob sie
Wasser trägt oder Kartoffeln schält.
Bei diesen
Überlegungen beruhigte sich Shiwago. Seltener Frieden senkte sich in seine
Seele. Seine Gedanken liefen nicht mehr durcheinander, sprangen nicht mehr von
einem Gegenstand zum andern. Er mußte lächeln. Die Anwesenheit Schwester
Antipowas hatte auf ihn die gleiche Wirkung wie auf die nervöse
Bibliothekarin.
Ohne sich
darum zu kümmern, wie sein Stuhl stand, und ohne Furcht vor Störungen oder
Ablenkungen arbeitete er noch anderthalb Stunden, fleißiger und konzentrierter
als vor Lara Antipowas Ankunft. Er wühlte sich durch den Bücherstapel, suchte
das Notwendigste heraus und las sogar zwei wesentliche Artikel. Dann beschloß
er, sich mit dem Getanen zu begnügen, und raffte die Bücher zusammen, um sie
zur Ausgabe zurückzubringen. Alle abseitigen Gedanken, die sein Bewußtsein
gestört hatten, waren weg. Reinen Gewissens und ohne Hintergedanken glaubte er,
mit seiner redlich abgearbeiteten Lektion das Recht verdient zu haben, sich mit
einer guten alten Bekannten zu treffen und sich ganz legal diese Freude zu
gönnen. Als er aber aufstand und den Lesesaal mit dem Blick überflog, war
Schwester Antipowa nicht mehr im Saal.
Auf der
Theke, wo der Arzt seine Bücher und Broschüren hintrug, lag noch die
Literatur, die sie zurückgegeben hatte. Es waren durchweg Handbücher über
Marxismus. Die ehemalige Lehrerin, die sich wohl neu orientieren wollte, machte
politisches Selbststudium.
In die
Bücher waren die Bestellzettel für den Katalog eingelegt, sie schauten mit den
Enden heraus. Darauf konnte Juri Shiwago Schwester Antipowas Adresse lesen. Er
notierte sie und wunderte sich über den seltsamen Namen:
»Kupetscheskaja-Straße, gegenüber dem Haus mit den Figuren.«
Er
erkundigte sich bei jemandem und erfuhr, daß die Bezeichnung »Haus mit den
Figuren« in Jurjatin ebenso bekannt war wie der Name der Kirchspiele in Moskau
oder die Bezeichnung »bei den fünf Ecken« in Petersburg.
So hieß
ein dunkelgraues Haus mit Karyatiden und Standbildern antiker Musen, die
Glöckchen, Leiern und Masken in den Händen hielten. Es war im vorigen Jahrhundert
von einem theaterbegeisterten Kaufmann für sein eigenes Haustheater gebaut
worden. Seine Erben hatten es an das Kaufmannschaftsamt verkauft, dem die Straße
ihren Namen Kupetscheskaja verdankte. Es war ein Eckhaus. Nach diesem Haus mit
den Figuren wurde das ganze umliegende Viertel benannt. Jetzt befand sich darin
das Stadtkomitee der Partei, und an der Wand des schräg abfallenden Fundaments,
wo früher Theaterzettel und Zirkusplakate geklebt hatten, waren jetzt die
Dekrete und Beschlüsse der Regierung ausgehängt.
Es war ein
kalter windiger Tag Anfang Mai. Juri Shiwago, der in der Stadt etwas erledigt
und kurz in die Bibliothek hineingeschaut hatte, warf auf einmal alle Pläne
über den Haufen und machte sich auf den Weg zu Schwester Antipowa.
Unterwegs
mußte er des öfteren stehenbleiben, denn der Wind blies ihm mit Sand- und
Staubwolken entgegen. Dann wandte er sich ab, kniff die Augen zu, zog den Kopf
ein und wartete, bis der Staub vorüber war, dann ging er weiter.
Schwester
Antipowa wohnte in der Kupetscheskaja-Straße, Ecke Nowoswalotschny-Gasse,
gegenüber dem dunklen, jetzt blau erscheinenden Haus mit den Figuren, das
Doktor Shiwago zum erstenmal sah. Es entsprach tatsächlich seinem Namen und
machte einen merkwürdigen, bedrohlichen Eindruck.
Das
Obergeschoß war umstanden von weiblichen mythologischen Figuren in
anderthalbfacher menschlicher Größe. Zwischen zwei Windstößen, die die Fassade
verbargen, kam es dem Arzt für einen Moment so vor, als wäre die weibliche
Bevölkerung des Hauses auf den Balkon getreten, beugte sich übers Geländer und
betrachtete ihn und die drunten vorbeiführende Kupetscheskaja-Straße.
Zu
Schwester Antipowa führten zwei Eingänge, die Haustür in der Straße und von der
Gasse über den Hof. Da Shiwago den ersten Eingang nicht kannte, wählte er den
zweiten.
Als er den
Hof betrat, wirbelte ein Windstoß Erde und Müll auf und verhüllte den Blick in
den
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