Brandzeichen
könnte. Sie entführten sie, und nachdem sie die Information, die sie von ihr wollten, nicht bekamen, ließen sie sie für tot in diesem Entwässerungskanal liegen.«
»Und warum sind sie gerade jetzt wieder aufgetaucht?«, fragte Neva. »Das Ganze ist doch zwanzig Jahre her.«
Diane dachte einen Moment nach. Sie schaute Jin an, und dann begann es ihr zu dämmern.
»Ich glaube«, sagte sie, »aus dem gleichen Grund, weswegen auch Juliets Alpträume nach all den Jahren wieder angefangen haben. Die Fernsehsendung. Ich würde darauf wetten, dass Juliet sie gesehen hat oder zumindest irgendwelche Vorschauen mitbekam, und dass dies ihre Alpträume ausgelöst hat.«
»Und Sie glauben jetzt, dass der Mörder dieselbe Sendung gesehen hat und Angst bekam, man könnte die Suche nach der verschwundenen Familie wieder aufnehmen und dabei auf Juliet stoßen, die sich vielleicht an die ganze Sache erinnern würde«, sagte Neva.
»Ja. Außerdem hat es das Interesse der Mörder an der Puppe und der Geheimbotschaft wiedererweckt, und sie entschlossen sich, beides in ihre Hände zu bekommen«, sagte Diane.
»Du sagst immer
sie
in der Mehrzahl«, sagte Frank. »Glaubst du denn, dass es mehr als einer war?«
»Es müssen zumindest zwei sein«, sagte Diane. »Eine Frau und ein Mann. Kurz bevor man Juliets Verschwinden entdeckte, stürzte eine Joggerin direkt vor ihrem Haus zu Boden. Ich halte das für ein Ablenkungsmanöver. Die Frau sollte die Aufmerksamkeit auf sich lenken, während der Mann gleichzeitig Juliet aus dem Garten hinter dem Haus entführte. Als ich in der Bibliothek diesen seltsamen Satz über Palimpseste hörte, war das, soweit ich mich erinnern kann, eine weibliche Stimme. Es war bestimmt nicht die Stimme des Mannes, der mir die Puppe raubte.«
»Das ist eine gute Geschichte«, sagte David. »Sie könnte sogar stimmen. Als Erstes müssen wir meiner Ansicht nach Leo Parrishs andere Verwandte aufspüren. Wie war noch ihr Name?«
»Oralia Lee und Burke Rawson«, sagte Neva, nachdem sie noch einmal den Stammbaum gemustert hatte.
»Ich fange mit Juliets Großmutter an«, sagte Diane. »Sie kennt sie vielleicht, oder sie kennt jemanden, den ich in Florida anrufen kann, der sie kennen müsste.«
Gerade als Diane Ruby Torkel anrufen wollte, klopfte es. Sie schauten alle zur Tür, als ob Darth Vader gleich den Raum betreten würde. Niemand klopfte jemals an diese Tür.
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50
W er könnte denn das sein?«, sagte Neva. Sie stand auf, ging hinüber und blickte durch den Türspion.
»Kendel«, sagte sie und öffnete.
Kendel, die in ihrem schokoladenbraunen Kaschmirpullover mit Pelzbesatz, ihren dazu passenden Wollhosen und hochhackigen braunen Lederstiefeln so schlank und elegant wie gewöhnlich aussah, betrat mit einem Päckchen unter dem Arm den Raum.
»Hallo. Ich kenne die Zugangsvorschriften für dieses Labor noch nicht. Ich nehme an, ich hätte vorher anrufen sollen. Ich habe gerade gesehen, dass Anna einen Darth Vader gefunden hat. Sie hat über einen Monat lang danach gesucht.«
David holte aus einem der Laborarbeitsräume einen Stuhl, und Kendel setzte sich zu ihnen an den Tisch.
»Also muss ich Anna dafür meinen Dank aussprechen«, sagte Diane.
»Die Museumsführer haben sich nicht mehr eingekriegt vor Lachen. Außerdem hoffen sie, dass die Kinder vor Darth Vader mehr Respekt haben als vor gewöhnlichen Verbotsschildern. Nach allem, was ich gehört habe, könnten sie ihn auch in der Sicherheitsabteilung gut brauchen. Wie geht es Ihnen? Wie geht es Ihrem Kopf?«
»Meine Kopfhaut tut noch weh, aber sonst geht es mir gut«, sagte Diane.
Kendel zuckte zusammen, als sich Diane über den Hinterkopf strich.
»Ich habe das Buch gefunden, nach dem Sie gesucht haben«, sagte sie dann mit einem Lächeln und packte das Päckchen aus.
Heraus kam ein kleines, relativ altes Buch mit blauem Stoffeinband. Seine Ecken waren abgenutzt, und sein Rücken war so verblichen, dass Diane die Beschriftung nicht mehr lesen konnte. Kendel schlug es auf.
»Es ist Band neun einer ganzen Reihe«, sagte sie.
»Wunder der Welt. Kunst und Wissenschaft.«
Sie reichte den dünnen Band Diane. »Seite fünfzehn, zweiter Abschnitt.«
Dianes Gesicht hellte sich auf, als sie Seite 15 aufschlug. Da war es.
»Palimpseste wurden hauptsächlich aus Pergament oder Papyrus hergestellt.«
Diane blätterte im Schnelldurchgang die übrigen Seiten durch und schaute sich die Schwarzweißbilder von Gemälden an. Im Impressum war als
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