Brandzeichen
Aber gegenüber so viel Geld waren auch sie machtlos.
Das erneute Schweigen wurde schließlich von Lynn Webber gebrochen, die offensichtlich die düstere Atmosphäre etwas aufzuhellen versuchte: »Also, Jin, was machen Sie eigentlich in Ihrer Freizeit?«
»Ich bin Gerätetaucher«, antwortete Jin. »Außerdem hat mich Diane in ihre Höhlen mitgenommen. Ich bin inzwischen ein ziemlich guter Höhlengänger, oder, Boss?«
Lynns und Jins Stimmen klangen durch die Schutzmasken, die beide trugen, etwas dumpf.
»Sie sind ein richtiges Naturtalent«, antwortete Diane leicht amüsiert.
Sie suchte gerade unter den Schädelfragmenten, die auf dem Tisch verstreut lagen, nach einem dreieckigen Knochenstück, das in das Stirnbein direkt über einer Augenhöhle passte. Als sie die Knochenstücke durchwühlte, fiel ihr auf, dass vom Oberkiefer überhaupt nichts erhalten geblieben war. Die Identifizierung des Opfers wäre zweifellos leichter, wenn man dessen obere Zahnreihe als Anhaltspunkt besäße.
»Tauchen und Höhlensport sind aber ganz schön gefährliche Beschäftigungen«, nahm Lynn den Faden wieder auf. »Aber Sie machen das nicht gleichzeitig, oder?«
»Man hat mir geraten, das nicht zu tun«, antwortete Jin und warf Diane einen kurzen Blick zu. »Zu gefährlich.«
»Machen Sie auch irgendetwas Entspannenderes?«, fragte Lynn weiter.
Diane wusste nicht genau, ob sie sich wirklich für Jins Freizeitgestaltung interessierte oder nur die gespannte Situation etwas auflockern wollte. Tatsächlich klang ihre Stimme trotz der Maske immer noch ziemlich angespannt.
»Das Tauchen ist ziemlich erholsam«, sagte er, und die Augen über seiner Maske verrieten ein breites Grinsen. »Allerdings habe ich auch schon ein paar nette, ruhige Momente verbracht, als ich an einer Höhlenwand hing.«
Lynn ließ ein von der Maske gedämpftes Lachen hören. »Wenigstens können Sie dabei eine Zeitlang alle diese Verbrechen vergessen«, sagte sie und schaute aufmerksam zu, wie er eine Knochenmarkprobe nahm.
»Mein Hobby ist das Lösen von Geheimnissen«, sagte Jin.
Diane schaute schnell von dem vor ihr liegenden Jochbogen auf und bereitete sich schon auf ein Lachen vor, da sie eine witzige Bemerkung Jins erwartete. Aber dann merkte sie, dass er es vollkommen ernst meinte. Das Lösen von Geheimnissen als Hobby – sie war gespannt, ob er das näher erläutern würde.
»Ein Hobby«, rief Lynn aus. »Ich hätte angenommen, dass Sie im Kriminallabor schon genug mit dem Tod in Berührung kommen.«
»Nicht der Tod, das Verschwinden von Menschen«, berichtigte Jin. »Ich interessiere mich für seltsame Vermisstenfälle.«
»Seltsame Vermisstenfälle?«, fragte Lynn nach. »Welcher Art? Etwa das Verschwinden des Gewerkschaftsführers Hoffa oder von Richter Crater? Sind nicht alle Vermisstenfälle seltsam, bis jemand herausfindet, was wirklich passiert ist?«
Jin zuckte mit den Achseln. »Zumindest einige. Das mit Hoffa war nicht so seltsam, solche Fälle interessieren mich nicht. Wahrscheinlich war es ja nur einer der üblichen Mafiamorde. Auch Richter Crater fiel 1930 wohl politischen Machenschaften zum Opfer. Ich finde solche Vermisstenfälle interessant, die zum Beispiel nicht einmal ein Sherlock Holmes lösen konnte, wie etwa den Fall James Phillimore.«
Jin konzentrierte sich einen Moment und fing dann zu deklamieren an: »›James Phillimore, der noch einmal kurz sein eigenes Haus betrat, um seinen Schirm zu holen, wurde in dieser Welt nie mehr gesehen.‹ Solche Fälle machen mir Spaß.«
»Das ist tatsächlich faszinierender als der Fall Hoffa«, gab Lynn zu. Sie hatte inzwischen mit der Untersuchung der vor ihr liegenden Leiche aufgehört und hörte Jin aufmerksam zu.
Auch Diane gönnte sich jetzt eine kleine Pause und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie hatte bereits einen Großteil des Schädels zusammengefügt, den Hinterkopf, die Seitenteile, die Stirn bis hinunter zum Augenbrauenwulst und eines der Jochbeine.
Mit der richtigen Röntgenaufnahme konnte sie jetzt wahrscheinlich den Körper identifizieren. Allerdings würde es lange dauern, bis sie das richtige Röntgenfoto finden würden.
Der teilweise rekonstruierte Schädel befand sich in einem kleinen Sandbecken und sah deswegen aus, als ob er gerade erst von einem Sandsturm freigeweht worden wäre. Der Sand hielt die geschwärzten Teile zusammen, bis der Leim getrocknet war. Jonas Briggs, der Archäologe ihres Museums, hatte ihr erzählt, dass man in seinem Fach
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