Braut von Assisi
mich zu den Carceri geschickt, als ich zum ersten Mal bei euch war?«, fragte er. »War das deine Stimme, die ich damals im Kreuzgang gehört habe?«
Die Infirmarin neben ihm schien auf einmal die Luft anzuhalten. Ihr Gesicht war wächsern geworden, die fleischlose Nase glich mehr denn je einem Schnabel.
Suor Amata schüttelte den Kopf und ließ einen kurzen italienischen Satz folgen.
Regula starrte an die Wand und tat, als hätte sie nichts gehört.
»Ab jetzt wirst du mir jedes ihrer Worte übersetzen«, sagte Leo. Sein Tonfall war ruhig, doch er wusste, dass sie die Schärfe sehr wohl heraushören würde, die dahinter lag. »Jedes!«
»Sie sieht dich heute zum allerersten Mal«, sagte Regula. »Und hat nie zuvor zu dir oder mit dir gesprochen.«
»Wie kommst du zu der Annahme, Magdalena hätte schreiben können?«, fragte er Amata weiter. »Hast du sie vielleicht dabei gesehen?«
»Niemals«, übersetzte Regula gehorsam die Antwort der jungen Nonne. »Aber seit ein paar Wochen waren ihre Finger immer so dunkel, das ist mir aufgefallen, obwohl sie es zu verbergen suchte. Sie ist erschrocken, als ich sie darauf angesprochen habe, das habe ich sofort gemerkt, hat den Kopf geschüttelt und die Hände schnell in den Ärmeln der Kutte verschwinden lassen. Dann aber hat sie sich wieder beruhigt. ›Ich weiß, du kannst wichtige Dinge für dich behalten, mein Lämmchen!‹, hat sie zu mir gesagt. ›Ganz anders als die, die sich hier seit Jahr und Tag meine Schwestern nennen und doch nichts Besseres zu tun haben, als mich zu beäugen und auszuspionieren. Vergiss einfach wieder, was du gesehen hast! Es hat nichts zu bedeuten! «
»Aber du hast es nicht vergessen«, sagte Leo sanft. »Erzähl bitte weiter!«
»Nein, denn als ich ein paar Tage später Suor Beatrice
mit einem Stapel frisch beschriebener Pergamente aus Madre Chiaras Kammer kommen sah, hatte sie ebenso dunkel verfärbte Finger, was meinen Verdacht bestätigte. Ihr obliegt die gesamte Korrespondenz von San Damiano. Irgendwann werde ich ihr vielleicht dabei helfen dürfen. Erst neulich wieder hat sie geäußert, meine Handschrift sei durchaus vielversprechend.«
Regula, die sich kaum noch beherrschen konnte, zischte ihr auf Italienisch ein paar unwillige Sätze zu, doch Leos unerbittlicher Blick zwang sie zurück ins Deutsche.
»Ich habe meine junge Mitschwester nur gerade wissen lassen, dass sie sich besser keine falschen Hoffnungen machen soll. In San Damiano wird hart gearbeitet, das sind wir unserer Herrin Armut schuldig. Wer herumfantasiert und Dinge sehen will, die es niemals gegeben hat, ist beim Rübenschälen in der Küche immer noch am besten aufgehoben. «
Es lag eine Boshaftigkeit in ihrem Tonfall, die Leo ärgerte und weit über die Bedeutung dessen hinausging, was sie gesagt hatte.
Auch Suor Amata war der Ton nicht entgangen. Ihre Augen waren schmal geworden. Sie packte Leos tintenbefleckte Hand, die eben noch die Feder gehalten hatte, und zerrte sie hoch.
Dann begann sie loszureden: »Deine Hände sind ebenfalls dunkel von Tinte, denn du schreibst, wie ich soeben feststellen konnte«, musste Regula übersetzen. »Ich bin keine Träumerin, wie sie behauptet. Ich habe junge Augen, die klar und gesund sind. Und ebendiese Augen haben Magdalena mit einem Buch aus der Kapelle kommen sehen.«
»Mit einem Buch?«, fragte Leo. Sein Nacken kribbelte. Da war sie endlich – die Spur, auf die er so lange gewartet hatte!
»Wir in San Damiano besitzen so gut wie keine Bücher«, wandte Regula ein, noch bevor Amata antworten konnte. »Bis auf ein uraltes Brevier für die Stundengebete, das aus der Feder von Fra Rufino stammt, eine heilige Bibel und einige Schriften über Arzneien, die ich zurate ziehe, wenn jemand von uns krank wird. Francesco hat die Gelehrsamkeit niemals geliebt, das weißt du ebenso gut wie ich, sondern sie gehasst und als Feindin wahrer Frömmigkeit angesehen. Und Madre Chiara, seine engste Vertraute seit jeher …« Sie fuhr sich mit der Hand mehrmals über das Gesicht, als wolle sie etwas wegwischen.
»Welches Buch, Suor Amata?«, wiederholte Leo eindringlich, ohne mit einem Wort auf Regulas Einwände einzugehen. »Kannst du es mir zeigen? Ich möchte es gerne sehen.«
Die junge Nonne senkte den Kopf und begann zu flüstern.
»Es war in Magdalenas Bett«, übersetzte Regula stirnrunzelnd. »Unter dem Stroh. Aber da ist es jetzt nicht mehr.«
»Und wo ist es dann?«, wollte Leo wissen.
Ratloses Achselzucken.
»Jemand
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