Breed: Roman (German Edition)
wenn ihr ein Wort nicht einfällt und sie ihren Mann braucht, um es zu finden.
»Angst«, sagt er.
»Angst vor uns«, sagt Leslie. »Und das hat gute Gründe.« Sie deutet auf die Kellertür. »Und jetzt haben wir beide eine Heidenangst, dass sie womöglich jemanden finden, dem sie erzählen, was in unserem Haus vor sich geht, und dass dann bald die Polizei an unsere Tür klopft. Stimmt’s? Das ist es doch, wovor du wirklich am meisten Angst hast. Nicht etwa davor, dass den beiden etwas …« Wieder wedelt sie hilfesuchend mit der Hand.
»Ich weiß auch nicht, was du jetzt sagen willst«, sagt Alex. »Zustößt?«
»Ja. Zustößt. Du hast keine Angst, dass ihnen etwas zustößt. Du hast Angst, sie könnten alles verraten.« In ihre Augen treten Tränen.
»Bist du wirklich nicht hungrig?«, sagt Rodolfo zu Alice. Zusammen mit Rodolfos Skaterfreunden hocken die beiden hinter ein paar großen Felsen, wo sie ein kleines, rauchloses Feuer angezündet haben. Auf dem Boden liegt ein mit Eichhörnchen gefüllter Cowboyhut, durch dessen braunen Filz etwas Blut gesickert ist. Einige der Kids warten gierig auf die gerade in den Flammen bratenden Eichhörnchen, anderen dauert das zu lange, weshalb sie die Beute ihrer nächtlichen Jagd roh genießen.
Als Alice klar geworden ist, was diese Jungen und Mädchen vorhatten – als sie auf Bäume geklettert sind, die Äste geschüttelt und sich auf die frisch aus dem Schlaf erwachten, panischen Geschöpfe gestürzt haben, als diese auf den Boden gefallen waren und vergeblich zu flüchten versuchten –, da war sie zuerst entsetzt, hat sich jedoch rasch an diese neue Realität gewöhnt. Das geht allerdings nicht so weit, dass sie sich auch nur einen Bissen Eichhörnchenfleisch zugestehen wird, egal, wie hungrig sie ist.
Rodolfo hockt neben ihr und hält sich höflich die Hand vor den Mund, während er kaut. Alice ist erleichtert, dass er sich wenigstens für gebratenes Fleisch entschieden hat.
»Du wirst sehen«, sagt er zu ihr, »du gewöhnst dich schon daran. Eines Tages stehst du mehr drauf als auf so ’nen beschissenen Big Mac. Autsch. Tut mir leid, das war unhöflich.«
»So was ist mir egal«, sagt Alice.
»Soll ich dich wo hinbringen, wo du normales Essen kriegst?«
»Ich will bloß meinen Bruder finden.«
Rodolfo nickt. »Ja. Das versteh ich.«
»Adam.«
»Wie alt ist der?«
»Wir sind Zwillinge.«
»Echt?« Rodolfo lächelt. Er hat ein wunderschönes Lächeln. Das Licht des Feuers leuchtet in seinen Augen. »Viele von uns sind Zwillinge. Wir haben auch Drillinge, und Jeff, Louise, Marcel und Adrienne sind … wie nennt man das? Vierlinge?«
»Genau«, sagt Alice.
»Logisch«, sagt Rodolfo und schlägt sich an die Stirn. »Sag mal, gehst du zur Schule?«
»Ja!«
Rodolfo zuckt die Achseln. »Ich hab’s versucht. Mehr oder weniger. So weit so einer wie ich das kann.« Er streckt die Zunge heraus, rollt die Augen und lacht über seine Darstellung eines geistig Behinderten. Dann steht er rasch auf und streckt Alice die Hand hin. »Komm, ich besorge dir was zu essen, was du gewohnt bist.«
»Aber ich muss meinen Bruder finden.«
»Ich passe schon auf, dass dir niemand wehtut. Komm schon.« Im Tonfall des Typs, der im Fernsehen die Basketballspiele ansagt, fügt er hinzu: »Jetzt geht’s zur Sache!«
Mit einem lauten, durchdringenden Pfiff ruft Rodolfo die anderen herbei. Sie gehorchen ihm, ohne zu fragen oder zu zögern. Nachdem sie ihr kleines Feuer ausgetreten haben, werfen sie die Knochen, Köpfe und Schwänze der verzehrten Eichhörnchen in einen Mülleimer. Anschließend marschieren sie hinter Rodolfo und damit auch Alice in einer Art Formation durch einen dichtbewachsenen Teil des Parks, bis sie in der Nähe der Laufbahn herauskommen, die rund um den Stausee verläuft. In den warmen Monaten schwimmen auf diesem Wasseroval, das dann hell und blau ist wie ein Kinderauge, Scharen von Enten und Gänsen, und in der Mitte schießt unablässig eine Fontäne in die Höhe, um das Wasser rein zu halten. Nun jedoch ist der Stausee mit einer dünnen Eisschicht bedeckt und sieht aus wie das Auge eines alten Mannes, grau und getrübt.
»Rein geht’s!«, verkündet Rodolfo und ergreift die Stäbe des Zauns, den man aufgestellt hat, um genau das zu verhindern. Aus seinem Trupp steigt uneingeschränkter Jubel auf – mit Ausnahme von Alice, die zuerst meint, er würde einen Scherz machen. Als sie jedoch sieht, wie alle die Schuhe abstreifen und ihre Skateboards
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