Brenda Joyce
Vorbeifahren einen Fluch
aus. Dann fühlte Calder, wie ihn jemand an der Schulter packte, und ohne sich
umzusehen, wusste er, dass es Rick war.
»Lass mich los!«, schrie er und versuchte, sich aus dem Griff
seines Bruders zu winden.
»Willst du etwa auch sterben?«, brüllte ihn Rick an und zerrte ihn
auf die Füße.
»Lass mich los!«, schrie er wieder, verstummte
dann aber. Er hatte das Gefühl, als ob sein Herzschlag aussetzte. »Ist sie
...?«
Rick sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Nein. Noch nicht.« Der
Griff um seinen Arm verstärkte sich. »Wir müssen zurückgehen. Sie braucht
uns.«
Er versuchte sich erneut zu befreien, doch es
gelang ihm nicht. Jeder Tag schien irgendwie der letzte zu sein und war es dann
doch nicht. Er wollte, dass sie lebte, wusste aber, dass sie sterben musste –
dazu brauchte er keinen Doktor. Doch mit der Erleichterung kam wieder die
Furcht und diese große Erschöpfung. Er konnte es nicht mehr ertragen, sie so zu
sehen. Es tat zu weh. Und er konnte diesen Todesgeruch nicht mehr aushalten.
»Sie braucht dich.«
»Komm schon«, sagte Rick, als hätte er ihn gar nicht gehört. »Wir
müssen nach Hause. Ich muss fragen, ob Doc Cooper vorbeikommt.«
»Cooper wird nicht kommen, weil wir ihn nicht
bezahlen können.« Endlich gelang es Calder, seinen Arm aus Ricks Griff zu
entwinden. Wenn er groß war, würde er niemals wieder arm sein. Arm zu sein war
etwas für Dummköpfe, für Narren. Eines Tages würde er so reich sein, dass er
alles erkaufen konnte – sogar das Leben eines geliebten Menschen. Eines
Menschen wie seine Mutter.
Hart schüttelte die Erinnerung ab, die ihm so
klar vor Augen stand und noch immer einen Schmerz in ihm wachrief. Lily hatte
noch einige Tage gelebt, oder nicht? Seltsamerweise verließ ihn seine
Erinnerung in diesem Punkt, während er sich doch so genau daran erinnern
konnte, wie er ein kleiner, dreckiger, magerer Junge gewesen war, sein Bruder
neben ihm älter, größer, tapferer. Eigenartig, dass er sich nicht an ihren
Todestag erinnern konnte.
Hart schüttelte den Kopf, bis das Bild der beiden Jungen, das er
vor sich sah, verschwunden war und nur der erwachsene Rick Bragg übrig blieb.
Er ging langsam auf ihn zu. Rick blickte fragend zu ihm auf.
Hart legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Es tut mir
sehr leid.« Und es war ihm ernst damit.
Rick zuckte leicht zusammen, nickte dann aber. »Ich danke dir.«
»Kann ich irgendetwas tun?« Doch im selben Moment wurde ihm klar,
dass nicht einmal seine Macht und all sein Reichtum Leigh Annes Leben zu retten
vermochten.
Rick starrte ihn an. Nach einer Weile sagte
er: »Nein.«
Hart nickte und zog sich den Stuhl heran, auf dem Grace gesessen
hatte. Er nahm darauf Platz, entschlossen, dieses Mal nicht zu versuchen, sich
aus der Affäre zu ziehen, und er sah Leigh Anne beim Sterben zu.
Die ersten
Gäste trafen ein, und Francesca, die auf dem Treppenabsatz zum Erdgeschoss
stand, spürte, wie ihre Furcht wuchs. Wenn sie schon mit Dawn in eine so
schwierige Situation geraten war, was würde sie wohl dort unten erwarten? Sie
vermochte es sich gar nicht auszumalen. Sie hoffte inständig, dass die junge
Frau sie nicht verraten würde. Sie hatte ihr die ganze Geschichte
über den Fall, an dem sie arbeitete, erzählt, aber sie war sich nicht sicher,
ob die Prostituierte sich überhaupt um die verschwundenen Mädchen scherte. Sie
hatte Francesca einen eigenartigen Blick zugeworfen und war wortlos aus dem
Zimmer gegangen. Seitdem hatte Francesca sie nicht mehr gesehen.
Was mochte das zu bedeuten haben? Während Francesca dem Gemurmel
der männlichen Stimmen lauschte, das sich mit Solanges heller, angenehmer
Stimme mischte, und der Pianist eine nette, klassische Melodie zu spielen
begann, fragte sie sich, ob ihre Scharade womöglich bereits beendet war. Hatte
Dawn mit Solange gesprochen? Und wenn ja, warum hatte man sie nicht bereits
hinausgeworfen? Oder spielte Dawn ihr eigenes kleines Spielchen und wartete
noch ab, um Francesca in ihr Bett zu locken? So schockierend diese Vorstellung
auch sein mochte, sie war immer noch besser, als erfahren zu müssen, dass Dawn
Solange die Wahrheit gesagt hatte.
Francesca fürchtete sich davor, nach unten zu
gehen.
Sie schwitzte, und ihre Wangen fühlten sich
heiß an. Energisch rief sie sich ins Bewusstsein, dass sie sich nur aus einem
einzigen Grund in diesem Etablissement aufhielt: um herauszufinden, ob hier
Kinderprostitution betrieben wurde, und falls
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