Brenda Joyce
letzten Endes unumgänglich schien: Sie hatte der
Dekanin des Barnard College schriftlich mitgeteilt, dass sie mit sofortiger
Wirkung aus dem Studium ausschied. Dabei hatte sie so hart gearbeitet, um sich
heimlich an dem exklusiven College für Damen einschreiben zu können, und ihre
Schwester hatte ihr geholfen, die Gebühren aufzubringen. Sie hatte ihr Studium
geheim gehalten, weil Julia es ihr niemals erlaubt hätte – sie war bereits über
Francescas bisherige Reputation als Blaustrumpf, Exzentrikerin und Reformistin
alles andere als erfreut. Dennoch hatte sich Francesca nun entschieden, es sei
das Beste für sie, das Studium abzubrechen, denn seit sie sich zur
Privatdetektivin berufen fühlte, fand sie einfach nicht mehr genug Zeit zum
Lernen und hatte bereits wiederholt Seminare versäumt.
Heute war Freitag, und hätte sie ihr Studium nicht abgebrochen,
würde sie jetzt an ihrem Politikseminar teilnehmen – ihrem Lieblingsseminar –
und sich zweifellos in irgendeine hitzige Debatte verwickeln. Francesca
lächelte Joel an, als sie vor dem Lebensmittelladen an der Ecke der Eleventh
Street stehen blieben. »Häng du doch schon einmal in diesem und dem nächsten
Häuserblock die Plakate auf.«
Der Text der von Hand geschriebenen Aushänge
lautete:
V ermisst:
EMILY O' HARE
WURDE ZULETZT GESEHEN AM
MONTAG, DEM 24. MÄRZ, GEGEN 16:00 UHR
IN DER UMGEBUNG DER AVENUE A
UND DER TENTH STREET
A lter 13 JAHRE, DUNKLES HAAR,
BLAUE AUGEN, HÜBSCH
F ür H inweise ist eine BELOHNUNG von
$ 100 ausgesetzt.
NUR EHRLICHE ZEUGEN MÖGEN SICH MELDEN
Joel hielt ein Dutzend dieser Blätter, einen Hammer und eine Schachtel
Nägel in den Händen. »Mach ich sofort«, sagte er grinsend.
Francesca sah ihm nach, wie er munter
davonrannte, und wandte sich dann dem Eingang zum Lebensmittelladen zu. Von
innen hing ein Schild hinter der Scheibe: GEÖFFNET. Durch das sauber geputzte
Glas sah sie einen beleibten Mann, der mit ein paar Gegenständen auf der langen
Eichenholztheke beschäftigt war. Sie lächelte grimmig und betrat den Laden.
Drinnen war alles sehr ordentlich, der rohe Holzboden sauber
gekehrt, die gewachsten Theken glänzend poliert. Große Säcke mit Mehl und
Zucker standen neben dem Ladentisch, auf dem frische Brotlaibe und Teller mit
Rauchfleisch auf Kunden warteten. Außerdem gab es Dosen mit Schweineschmalz
und Butter. In mehreren Regalen wurden Trockenlebensmittel, Seife, Kerzen und
sogar einige Gewürze zum Kauf angeboten. Kurz, das Angebot war so reichhaltig,
wie es der enge Ladenraum nur eben zuließ.
»Mr Schmitt?«, fragte Francesca. Gerade als
sie auf ihn zutrat, kam eine junge Frau aus dem hinteren Teil des Ladens.
»Kann ich Ihnen helfen, Miss?« Schmitt lächelte. Er sprach mit
starkem deutschem Akzent.
Francesca musterte die junge Frau und
bemerkte, dass sie viel jünger war, als sie auf den ersten Blick gewirkt hatte
– sie konnte kaum älter als fünfzehn Jahre alt sein. Das Mädchen, das nicht
besonders hübsch, sondern eher unscheinbar war, begegnete ihrem Blick und
lächelte. Francesca erwiderte die freundliche Geste und wandte sich wieder dem
Ladenbesitzer zu. »Das hoffe ich sehr.« Sie reichte ihm ihre Visitenkarte,
wartete ab, bis er sie gelesen hatte, und sagte: »Ich ermittle im Fall Emily
O'Hare.«
Schmitt blickte schweigend auf. Sein Gesichtsausdruck war
unmöglich zu deuten.
Francesca stutzte. »Sie wissen doch, dass Emily am letzten Montag
gegen vier Uhr nachmittags von ihrer Mutter hierhergeschickt wurde, um Brot zu
kaufen, und dass sie seitdem verschwunden ist?«
»Ja, das weiß ich. Beth, bitte geh nach hinten und fang an, das
Trockenobst auszupacken, das gerade eingetroffen ist.« Irgendetwas stimmte hier
nicht. Francesca wandte sich Beth zu und sah, dass diese sie nun mit hochroten
Wangen anstarrte. Sie eilte sofort hinter den Ladentisch und verschwand im
Hinterzimmer.
Schmitt lächelte stolz. »Das ist meine Tochter«, sagte er. »Tut
mir wirklich leid wegen der kleinen Emily. Aber ich hab Brian schon gesagt,
dass ich sie an dem Nachmittag nicht gesehen habe. Sie war nicht hier im
Laden.«
»Können Sie sich noch daran erinnern, wer
von Ihrer KundSchaft an dem betreffenden Nachmittag hier gewesen ist?«,
erkundigte sich Francesca. »Vielleicht hat ja jemand etwas gesehen.«
Er stutzte. »Junge Dame, ich hab 'nen gutgehenden Laden. Ich kann
mich unmöglich daran erinnern, wer an einem bestimmten Nachmittag bei mir
eingekauft hat!«
»Und Sie wollen es auch nicht einmal
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