Brenda Joyce
Julia
vergötterte Evan. In ihren Augen konnte er beinahe nichts Falsches tun.
Francesca fürchtete, ihre Mutter werde untröstlich sein.
»Mama wird weinen. Und es wird mir das Herz brechen, der Anlass zu
ihren Tränen zu sein. Aber ich liebe sie sehr, und ich werde nicht zulassen,
dass der Krieg zwischen Vater und mir unsere Beziehung trübt. Wir werden
irgendwie weiterhin in Kontakt bleiben.«
Francesca starrte ihren Bruder an, der mit
einem Mal so finster und grimmig wirkte. Dabei war er von seinem Wesen her
freundlich und gutherzig – ja, er besaß ein derart sonniges Gemüt, dass er sich
kaum jemals zu einem Wutausbruch hinreißen ließ. Noch nie zuvor hatte sie ihn
so entschlossen und zielstrebig erlebt, und auch noch nie so voll von Groll und
tief sitzendem Zorn. »Ich werde dir helfen, das Geld aufzubringen«, verkündete
sie, und es war ihr ernst damit. Kaum dass sie die Worte ausgesprochen hatte,
sah sie im Geiste Harts Bild vor sich.
Er war reich. Er hatte ihr für eine ihrer Gesellschaften – die
Damengesellschaft zur Abschaffung der Mietshäuser – einen Scheck über
fünftausend Dollar überreicht. Bislang waren sie beide die einzigen Mitglieder
dieser Gesellschaft, denn in letzter Zeit war sie nicht mehr dazu gekommen, für
ihr neuestes Anliegen zu werben.
Evan wurde sanfter. »Ich wusste, dass du so etwas sagen würdest.
Ich kann deine Hilfe wirklich brauchen, Fran.«
»Ich weiß.
Ich werde dich nie im Stich lassen, Evan.«
Das entlockte ihm ein Lächeln. »Auch das weiß ich. Umgekehrt gilt
das Gleiche.«
Sie
blickten einander voller Zuneigung an.
Plötzlich bemerkte Francesca, dass Maggie vom
anderen Ende der Halle auf sie zukam. Offenbar war sie in der Küche gewesen.
Sie wirkte noch bleicher als vorhin und stützte sich noch angestrengter auf
ihren Gehstock.
Als Evan sie ebenfalls bemerkte, wurden seine Augen groß. »Mrs
Kennedy! Was machen Sie denn hier unten?« Er eilte ihr entgegen und legte den
Arm um sie. »Sie hätten nicht herunterkommen sollen«, schalt er die Näherin
sanft. »Was denken Sie sich nur dabei?«
Maggie war sichtlich beinahe am Ende ihrer
Kräfte. Sie lehnte sich gegen Evan, und auf ihren Wangen erschienen vor Anstrengung
rote Flecken. »Der Doktor hat gesagt, ich darf wieder rumlaufen, aber plötzlich
habe ich überhaupt keine Kraft mehr«, sagte sie matt.
»Das sehe ich. Finney ist ein Narr«, bemerkte Evan. »Ich werde Sie
jetzt hinauftragen. Keine Widerrede.«
»Nein«,
protestierte Maggie sofort. »Ich kann selbst laufen ...«
Er hob sie
so mühelos auf die Arme, als sei sie leicht wie eine Feder. »Wo sind die
Kinder?«, erkundigte er sich, während er voller Elan die Treppe
hinaufzusteigen begann. Maggies geringes Gewicht machte ihm offenkundig
überhaupt nichts aus.
»Sie sind
in der Küche beim Abendessen. Bitte lassen Sie mich runter, Mr Cahill.«
»Mrs Kennedy, ich komme lediglich meiner Pflicht als Gentleman
nach. Hören Sie auf, sich zu sträuben.« Doch sein Ton war sanft, und er blickte
lächelnd auf sie hinunter.
Francescas Herz hatte einen Purzelbaum
geschlagen. Sie schaute den beiden nachdenklich hinterher. Es war schlicht unmöglich,
dass sich Evan auf romantische Weise für eine Näherin interessierte – oder
etwa nicht? Sie kannte ihn doch so gut! Er hegte eine Vorliebe für Pracht und
Schönheit und bevorzugte Frauen wie seine Mätresse, die Schauspielerin Grace
Conway, oder Bartolla Benevente. Niemals gab er sich mit Hausmädchen oder
Kellnerinnen ab. Das war nicht seine Art.
Auf halber Treppe wandte er sich kurz zu seiner Schwester um. »Ich
mache mich gleich auf den Weg zum Abendessen, Fran. Sollen wir zusammen
hinfahren?«
»Ja.« Sie zögerte.
Er verstand. »Sarah und ich haben uns im Plaza verabredet. Ich
werde später am Abend mit ihr sprechen, oder spätestens gleich morgen früh.«
Plötzlich fühlte sich Francesca erleichtert – letztendlich war die
Auflösung dieser Verlobung für beide das Beste. »Ich werde nichts ausplaudern«,
versprach sie.
Erst zu spät wurde ihr bewusst, dass sie keine Gelegenheit gehabt
hatte, mit ihrem Bruder über Sarahs Fall zu sprechen.
Das Plaza Hotel zählte zu den berühmtesten und elegantesten
Etablissements der Stadt. Dienstboten in roter Livree eilten herbei, um den
Brougham der Cahill-Geschwister in Empfang zu nehmen und Francesca
herauszuhelfen. Es hatte stark zu schneien begonnen, doch das gewaltige
bronzene Vordach schützte sie und die übrigen Gäste vor den Unbilden
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