Brezeltango
Sie stand auf und nahm mir die Taschen ab.
»Soll ich dir nicht noch schnell aus der Apotheke ein paar Aspirin holen?«
Lila schüttelte den Kopf. »Ich versuch’s erst mal mit Arnika-Globuli.«
»Warum gehst du nicht so schnell wie möglich zum Zahnarzt?«
»Weil mein Zahnarzt gerade mit seinen Sprechstundenhilfen nach Santiago pilgert. Er will ein Buch schreiben: ›Als Zahnarzt auf dem Jakobsweg‹.«
»So eine Pilgerreise dauert doch Wochen! Hat er keine Vertretung?«
»Schon. Mein Zahnarzt ist aber Homöopath und arbeitet mit Hypnose statt mit Spritzen. Die Vertretung hat eine Praxis in der Landhausstraße übernommen, da bin ich heute Morgen kurz vorbei und wollte mir einen Termin geben lassen. Das scheint aber so ein Luxuszahnarzt zu sein. Der Eingang sieht aus wie ein antiker römischer Tempel. Der Kerl wird den Zahn, ohne hinzusehen, für klinisch tot erklären, weil er seine Finca auf Mallorca finanzieren muss, und mir dann zu einer Goldkrone raten, wenn ich nicht möchte, dass der Zahn in zwei Jahren schwarz wird und dann ausfällt. Wenn er sieht, in welchem Zustand die anderen Zähne sind, wird er sofort eine kleine Goldmine wittern und einen Fünf-Jahres-Sanierungsplan aufstellen. Das kann ich mir als Sozpäd nicht leisten. Außerdem habe ich panische Angst vor Spritzen.«
Das Telefon klingelte und Lila angelte danach.
»Nicht rangehen!«, kreischte ich hysterisch, schnappte ihr den Apparat vor der Nase weg, packte den Küchenwecker mit der anderen Hand und spulte die Venezuela-Kaltental-Nummer herunter.
Lila beobachtete mich stumm, als sei ich vollkommen bekloppt, vor allem, als ich den alten Wecker klingeln ließ.
»Sag amol, Line, was schwädsch ’n fir en Bepp raus?« Es war Lilas Mutter.
Kommentarlos reichte ich das Telefon an Lila weiter. In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Für Leon war das eigentlich zu früh. Ich spähte durchs Fenster, konnte aber niemanden erkennen, weil man von hier aus nur auf die Straße und nicht auf die Haustür schauen konnte. Jetzt hätte ich so einen Rückspiegel brauchen können, wie ihn manche schwäbische Hauswirtinnen am Fenster anbrachten, damit sie das Kommen und Gehen im Haus jederzeit verfolgen konnten. Ich schlich auf Zehenspitzen zur Haustür und öffnete sie ganz langsam, bereit, sie jederzeit zuzudonnern, falls eine Kamera auf mich gerichtet war und mir jemand ein Mikro unter die Nase hielt. Die Trekking-Sandalen kamen mir irgendwie bekannt vor.
»Was ist denn mit dir los?«, hörte ich Leons belustigte Stimme. »Darf ich nicht reinkommen?«
Ich hatte mir fest vorgenommen, Leon distanziert zu begrüßen. Wenn sich die Gefühle zwischen uns abgekühlt hatten und er nicht das geringste Mitleid mit mir hatte, obwohl ich die Nacht im Gefängnis verbracht hatte – kein Problem. Dann durfte er von mir aber auch keine Leidenschaft mehr erwarten. Ich würde ihn auf die Wange küssen und lächeln, mich aber bemühen, das Lächeln so geheimnisvoll aussehen zu lassen wie das einer Sphinx.
Leon riss die Tür auf und taumelte in den Hausflur. Er ließ einen riesigen Strauß Nelken fallen, fegte mich in seine Arme und küsste mich leidenschaftlich. Mein Sphinx-Lächeln zerbröselte. Wir umschlangen uns fest. Ein paar Minuten später tauchten wir keuchend aus dem Durcheinander von Armen, Beinen und Blumen wieder auf. Leons T-Shirt war total verknautscht, seine Haare waren wild verstrubbelt und mein knappes Hängerchen war ziemlich weit hochgerutscht.
Leon kitzelte mich, und als ich mich sofort wieder auf ihn stürzen wollte, schob er mich leicht von sich. »Warte. Ich will jetzt endlich wissen, was gestern passiert ist.«
»Dann komm doch erst mal rein.« Ich zog das Hängerchen wieder brav nach unten, Leon strich sich die Haare glatt und gemeinsam sammelten wir die Blumen auf.
Lila blätterte gerade durch die Zeitung und grinste ein bisschen schief. »Hallo Leon.«
»Lila hat Zahnschmerzen«, erklärte ich und öffnete den Küchenschrank, um nach einer Vase für die Nelken zu suchen. Ich fand Nelken schrecklich, aber die Geste zählte.
»Du Ärmste«, sagte Leon und drückte Lila mitfühlend an sich, anstatt sie wie sonst auf beide Wangen zu küssen. »Und trotzdem kochst du für uns? Das ist aber sehr heldenhaft von dir.« Er zog eine Flasche Weißwein aus der Tasche und stellte sie in den Kühlschrank. Dann fiel sein Blick auf die Zeitung. »Du liest die taz?«, platzte er heraus.
Lila sah ihn erstaunt an. »Manchmal, warum?«
Leon
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