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Brezeltango

Brezeltango

Titel: Brezeltango Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Kabatek
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Besitztümer ein. Dann dirigierte er mich zu einer baumbestandenen Halbinsel und half mir vom Wasser aus beim Einsteigen. Natürlich war immer noch Wasser im Kajak, aber irgendwie schaffte ich es zurück zum Bootssteg.
    Leon nahm mich fest in den Arm, vor allen Leuten und obwohl ich nass wie ein Pudel war.
    »Süße, du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, murmelte er. »Du hattest recht, für einen Anfänger war das ein Tag mit zu viel Betrieb.«
    »Nicht so schlimm«, sagte ich. »Offensichtlich musste erst jemand aus Stuttgart kommen, damit ihr steifen Nordländer mal wieder ordentlich was zum Lachen habt. Zur Entschädigung könntest du mich zum Essen einladen.«
    »Möchtest du nicht erst nach Hause und dich umziehen?«
    »Hier in der Sonne trocknen die Kleider sicher schnell«, sagte ich.
    »Trotzdem solltest du nachher vielleicht kurz duschen. Nicht, dass dir Zwiebeln und Gewürzgurken im Haar nicht stehen würden …«
    Ein paar Stunden später war ich mit Hilde unterwegs. Da die Hälfte ihrer Sachen untergegangen, weggeschwommen oder von den Enten gefressen worden war, hatten wir ihr den Schiffbruch beichten müssen, und sie hatte es mit viel Humor aufgenommen.
    Leons altes Gymnasium lag in einem putzigen Viertel auf der anderen Seite des Kanals. Überall saßen Leute auf kleinen Balkonen und lasen Zeitung. Es erinnerte mich an Stuttgart-West, nur war es hier deutlich schicker. Die Schule war in einem ehrwürdigen Backsteinbau untergebracht. Zum Glück begnügte sich Hilde mit einer kurzen Außenbesichtigung.
    »Leon hatte immer glänzende Noten in Mathe und Physik und Chemie und Informatik«, sagte sie stolz.
    »Und in Deutsch?«
    »Das war überhaupt nicht seins. Nicht mal ›Der kleine Häwelmann‹ hat er zu Ende gelesn. So, solln wir einen Kaffee trinkn?«
    Hilde führte mich in ein schnuckeliges Café. Das Mobiliar war kunterbunt zusammengewürfelt, an der Wand hingen Bilder und Gemälde in verschiedenen Stilrichtungen. Es erinnerte mich fast ein bisschen an unsere Küche. Wir nahmen an einem wackligen Tisch Platz. Hilde bestellte Streuselkuchen mit Sahne für uns beide. Das fand ich sehr sympathisch. Der Kuchen war dick mit Streuseln belegt, die auf der Zunge zergingen, der Sahnehaufen war riesig und garantiert nicht aus der Sprühdose, und die süße Sahne in Kombination mit den sauren Kirschen unter den Streuseln … Es war einfach himmlisch! Ich vermisste Leon überhaupt nicht.
    Am Nachbartisch wurden Geschenke ausgewickelt. Das Geburtstagskind, ein hanseatischer Mittvierziger, packte Buch um Buch aus und brach bei jedem neuen Titel in Entzücken aus: »Wolfgang Borchert, Gesamtausgabe! Toll, ein echter Eppendorfer! Eine Biografie von Barack Obama! Interessiert mich wahn-sinn-ich! Margot Käßmann, In der Mitte des Lebens! Super, auch mal was aus Frauenperspektive.«
    Ich seufzte. »Hat Leon als Kind mehr gelesen als später in der Schule?«, fragte ich Hilde.
    Sie schüttelte den Kopf. »Wenn wir ihm was vorlesn wolltn, is er immer schreiend aus ’m Zimmer gerannt. Leon hat sich vor allem für Fußball und Autos interessiert. Nur wenn er irgendwas zusammenbaun wollte, hat er die Gebrauchsanweisung gelesn. Seine Schwester war da anders. Sie hatte immer ein Buch vor der Nase.« Sie sah auf die alte Standuhr in der Ecke des Cafés. »So, jetzt könntn wir Güntha und Leon vom Fußball abholn, die Kneipe is nur ein paar Schridde von hier.«
    »Ich gehe nur noch rasch aufs Kl… – auf die Toilette«, sagte ich.
    Auf dem Klo setzte ich mich einen Augenblick auf den Deckel, um mich zu entspannen. Der dauernde Small Talk war anstrengend. Und warum war ganz Hamburg literarisch interessiert, nur Leon nicht? Jemand drückte die Klinke herunter und weckte mich aus meinen Tagträumen. Ich klappte den Deckel wieder hoch. Plitsch!, machte es. Mein Geldbeutel, den ich mit Mühe in die Gesäßtasche meiner neuen weißen Jeans gestopft hatte, weil ich keine Handtasche besaß, hatte sich selbstständig gemacht und war aus der Tasche in die Kloschüssel geplumpst. Ich fluchte. So ein Mist! Immerhin vor der Klobenutzung. Ich fischte den Geldbeutel aus dem Wasser und versuchte ihn mit etwas Klopapier trockenzuwischen. Das funktionierte nicht wirklich. Innen war alles nass. Geldscheine, ein Gedicht, Notizen und die zwei Jahre alte Bescheinigung vom Arzt, dass ich meinen Quartalsbeitrag entrichtet hatte. Ich öffnete die Tür, ignorierte die Frau davor, die mich vorwurfsvoll musterte, und versuchte es

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