Brixton Hill: Roman (German Edition)
gehört haben musste.
Er reagierte nicht.
»Was genau willst du eigentlich?« Sie zerrte wieder an den Fesseln, die sie am Bettpfosten hielten. Plastik. Möglicherweise so etwas wie Kabelbinder. Warum zum Teufel hatte Alan Kabelbinder bei sich?
Em konzentrierte sich.
Keine Angst zeigen. Keine Panik zulassen. Er durfte auf keinen Fall merken, wie es ihr ging.
Dabei wusste sie, dass sie hier wohl nicht mehr lebend rauskommen würde.
Er stand einfach da. Schwarz und unbeweglich. Sie hörte seinen Atem, und dann glaubte sie auch, seinen Herzschlag zu hören, aber es war ihr eigener Puls, der in ihren Ohren rauschte. Was tat er da? Auf ihre Angst warten? Würde er sie schlagen, sobald sie sie zeigte?
Sie musste sich konzentrieren. Nach außen hin ruhig bleiben.
Sich ablenken.
Konzentrieren.
Etwas raschelte. Seine Kleidung. Er bewegte sich. Kam auf sie zu, beugte sich über sie.
Schwieg immer noch.
Sie wollte etwas sagen, hielt es zurück. Sie konnte nicht verhindern, dass sich alle Muskeln anspannten, dass sich ihr Körper zusammenzog, klein machte, von ihm weg wollte.
Er richtete sich auf, drehte sich um und ging aus dem Zimmer. Em hörte, wie er die Treppen runterging. Als sie ihn weit genug weg glaubte, zerrte sie an den Fesseln. Sie versuchte, ihre Hände durch die Schlinge zu ziehen, aber die war zu eng. Sie zerrte trotzdem weiter.
Was tat er? Holte er eine Waffe? Eine richtige Waffe, nicht nur einen Behelfsgegenstand wie eine Glasflasche? Was würde die Waffe seiner Wahl sein? Hatte er eine Pistole? Oder holte er ein Messer?
Sie hielt es nicht länger aus. Hilflos ausgeliefert zu sein, ertrug sie nicht. Sie spürte Tränen in den Augen, spürte den Schmerz in sich, der sich immer tiefer eingrub. Em glaubte zu bersten. Sie wollte auf sich selbst einschlagen, um diesem Schmerz, diesem Druck ein Ende zu bereiten. Sie zerrte noch fester an den Fesseln, doch dieser Schmerz allein reichte nicht. Sollte sie sich wünschen, dass er zurückkam und ihr Schmerzen zufügte, um endlich diesen Druck loszuwerden?
Nein, so funktionierte das nicht. Das wäre ja auch zu einfach. Aber eine Sache funktionierte: Sie musste diesen Ort verlassen. Dorthin gehen, wo es nicht wehtat.
Etwas, das sie immer getan hatte, wenn sie nicht mehr an ihre Mutter denken konnte, weil sie sonst das Gefühl hatte, sterben zu müssen.
Und sterben wollte sie nicht. Nicht hier, nicht jetzt.
Sie musste einfach – an diesen anderen Ort. Sie hatte ihn seit fast fünfzehn Jahren nicht mehr besucht. Den Ort, an dem alles begonnen hatte, was sie jetzt ausmachte.
Damals waren sie und Eric mit ihrem Vater in Manchester gewesen. Sebastian Vine hatte dort geschäftlich zu tun gehabt. Ihr Vater zeigte ihnen tagsüber das Old Trafford-Stadion, auch liebevoll Theatre of Dreams genannt, wo am Abend zuvor eine Band gespielt hatte – war es Genesis gewesen? Eigentlich hatten sie dort nichts zu suchen, aber ihr Vater kannte wohl irgendjemanden, und man ließ sie dort herumlaufen. Die Bühnenarbeiter hatten gerade mit dem Abbau angefangen. Als sie Ems riesige Augen sahen, holten sie sie auf die Bühne und erklärten ihr alles, was sie wissen wollte. Die Beleuchtung. Die Lautsprecher. Das Bühnenbild. Die Konstruktion. Alles.
Em sah nach vorne, wo keine Zuschauer mehr standen, nur Eric und ihr Vater. Sie waren ganz klein und wurden immer winziger, wie sie da zum anderen Ende des Rasens gingen. Einer der Arbeiter erzählte ihr davon, wie es hier auf der Bühne bei einem Konzert aussah – nach Einbruch der Dunkelheit, mit einer fantastischen Lichtshow und einem Ozean von tanzenden, singenden Menschen davor. Kurz schloss sie die Augen, um es zu sehen. Dann drehte sie sich um und betrachtete die Technik. Und dachte: So was will ich später auch mal machen. Riesige Shows auf die Bühne bringen, und Hunderttausende schauen zu. Sie hatte es geschafft.
Aber der Traumort hatte seine Magie verloren. Vielleicht, weil sie alles erreicht hatte.
Jetzt blieb die Angst, und er kam zurück.
Sie versuchte etwas zu erkennen. Hatte er eine Waffe geholt?
Wieder stand er einfach nur da und starrte in ihre Richtung. Das dünne Licht, das von irgendwoher hinter der Fensterscheibe glomm, ließ sie nur Schatten erkennen. Grau, grauer, schwarz.
Ihr war kalt. Stand das Fenster offen? Ihr war richtig kalt. Am liebsten wäre sie unter die Decke gekrochen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Das heißt, sie könnte die Beine anziehen und dann versuchen, unter die Decke zu kommen.
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