Brunetti 07 - Nobiltà
gut, wenn wir uns mit seinem Zahnarzt in Verbindung setzen könnten. Offenbar gibt es Anzeichen für eine kieferorthopädische Behandlung.«
»O Dio«, flüsterte der junge Mann, dann sagte er laut: »Roberto hat jahrelang eine Zahnspange getragen.«
»Können Sie mir den Zahnarzt nennen?«
»Francesco Urbani. Seine Praxis ist am Campo Santo Stefano. Wir gehen alle zu ihm.«
Brunetti notierte sich Namen und Adresse.
»Vielen Dank, Signor Lorenzoni.«
»Wann werden Sie Gewissheit haben? Soll ich es meinem Onkel sagen?« Und nach kurzem Zögern setzte er noch hinzu; »Und meiner Tante.« Aber das war keine Frage mehr. Brunetti nahm die weiß umrandeten Röntgenaufnahmen des Gebisses zur Hand. Er konnte Vianello heute nachmittag damit zu Doktor Urbani schicken. »Wahrscheinlich kann ich Ihnen noch heute etwas dazu sagen. Ich würde gern mit Ihrem Onkel sprechen, und mit Ihrer Tante, wenn es geht. Heute abend?«
»Ja, ja«, antwortete Lorenzoni abwesend. »Commissario, besteht eine Möglichkeit, dass es nicht Roberto ist?«
Falls diese Möglichkeit je bestanden hatte, schien sie mit jeder zusätzlichen Erkenntnis kleiner zu werden. »Ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich, aber vielleicht möchten Sie lieber abwarten, bis ich mit dem Zahnarzt gesprochen habe, bevor Sie Ihrem Onkel etwas sagen.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich ihm das beibringen soll«, sagte Lorenzoni. »Und meiner Tante, meiner Tante.«
Was immer der Zahnarzt zu sagen hatte, es würde nur bestätigen, was Brunetti instinktiv wusste Er beschloss, mit den Lorenzonis zu reden, mit allen, und zwar bald. »Ich kann kommen und es ihnen sagen, wenn Sie wollen.«
»Ja, ich glaube, das wäre besser. Aber wenn der Zahnarzt nun meint, dass es nicht Roberto ist?«
»Dann rufe ich Sie an. Unter derselben Nummer?«
»Nein, ich gebe Ihnen lieber die Nummer meines Handys«, antwortete Lorenzoni. Brunetti notierte sie sich.
»Ich bin um sieben bei Ihnen«, sagte er und vermied bewusst jede Einschränkung für den Fall, dass die zahnärztlichen Unterlagen nicht mit den Röntgenbildern übereinstimmten.
»Gut, um sieben«, sagte Lorenzoni und legte auf, ohne Brunetti die Adresse oder eine Wegbeschreibung zu geben. In Venedig genügte offenbar der Name.
Brunetti rief sofort unten bei Vianello an und bat ihn heraufzukommen und sich die Röntgenbilder zu holen. Als der Sergente eintrat, gab Brunetti ihm Dottor Urbanis Adresse und schickte ihn mit der Anweisung los, das Ergebnis gleich telefonisch durchzugeben.
Wie war das, wenn einem das Kind entfuhrt wurde? Wenn das Opfer nun Raffi gewesen wäre, sein eigener Sohn? Schon bei dem bloßen Gedanken zog sich Brunetti vor Angst und Abscheu der Magen zusammen. Er erinnerte sich an die Welle von Entführungen, die es in den 80er Jahren im Veneto gegeben hatte, und den Aufschwung, den dies privaten Sicherheitsdiensten beschert hatte.
Die Bande war vor ein paar Jahren aufgeflogen, und die Anführer hatten lebenslänglich bekommen. Mit leisen Gewissensbissen ertappte Brunetti sich bei dem Gedanken, dass diese Strafe nicht hart genug war für ihre Taten, obwohl das Thema Todesstrafe in seiner Familie ein derart rotes Tuch war, dass er die logische Konsequenz seiner Überlegungen lieber nicht weiterverfolgte.
Er musste diese Mauer sehen und sich ein Bild machen.
Wäre sie leicht zu überklettern oder wie sonst hatte man den Stein hinter das Tor legen können. Er musste die Kollegen in Belluno anrufen und sich nach Entführungsfällen in der Gegend erkundigen: Er hatte geglaubt, diese Provinz sei die an Verbrechen ärmste im Land, aber vielleicht gehörte ein solches Italien schon ins Reich der Erinnerungen. Es war genug Zeit vergangen, dass die Lorenzonis, falls es ihnen damals gelungen war, sich die Lösegeldsumme zusammenzuleihen, möglicherweise jetzt darüber sprechen würden. Und wenn ja, wie sie das Geld übergeben hatten, und wann? Die Erfahrung von Jahren warnte ihn, nicht schon vom Tod des Jungen auszugehen, ohne den endgültigen Beweis dafür zu haben; dieselbe Erfahrung sagte ihm aber auch, dass hier kein endgültiger Beweis nötig war. Seine Intuition genügte.
Er musste an das Gespräch mit Conte Orazio denken und wie sehr er sich gesträubt hatte, die Intuition des anderen zu akzeptieren. Paola hatte bisweilen gesagt, dass sie sich alt fühle, dass die beste Zeit des Lebens vorbei sei, aber es war Brunetti immer gelungen, sie von solchen Gedanken abzulenken. Er verstand nichts von Wechseljahren,
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