Brunetti 09 - Feine Freunde
das richtige Wort war - das geliehene Geld nicht zurückzahlten. Männer hatten Kinder, und Kinder konnten verschwinden; Männer hatten Töchter, und junge Mädchen konnten vergewaltigt werden; Männer hatten ein Leben, und man hatte schon gehört, daß sie es verloren. Gelegentlich las man in der Presse Berichte, aus denen man, auch wenn es darin nie eindeutig gesagt wurde, den Eindruck gewann, daß gewisse unerfreuliche, oft gewalttätige Vorkommnisse auf das Versäumnis zurückzuführen waren, geliehenes Geld zurückzuzahlen. Aber nur selten wurde gegen die betreffenden Personen Anklage erhoben oder auch nur von der Polizei ermittelt, denn eine Mauer des Schweigens bot ihnen ringsum Sicherheit. Brunetti konnte sich an kaum einen Fall erinnern, in dem ausreichend Beweise zusammengetragen worden waren, um eine Verurteilung wegen Kreditwuchers zu bewirken, einer Straftat immerhin, auch wenn sie nur selten vor Gericht kam.
Brunetti saß an seinem Schreibtisch und ließ seine Phantasie wie sein Gedächtnis mit den vielen Möglichkeiten spielen, die sich allein aus der Tatsache ergaben, daß Franco Rossi, als er starb, Sandro Cappellis Telefonnummer bei sich gehabt hatte. Er versuchte sich Rossis Besuch in seiner Wohnung noch einmal zu vergegenwärtigen und sich zu erinnern, wie der Mann auf ihn gewirkt hatte. Rossi hatte seinen Beruf sehr ernst genommen, das war vielleicht der nachhaltigste Eindruck, der bei Brunetti entstanden war. Ein bißchen humorlos zwar, ernster jedenfalls, als man es bei einem so jungen Mann für möglich halten würde, und doch war Rossi ein liebenswerter Mensch gewesen, der bereitwillig jede Hilfe angeboten hatte, die ihm zu Gebote stand. Alle diese Überlegungen brachten Brunetti allerdings nicht weiter, solange er keine klare Vorstellung davon hatte, was sich da abspielte, aber es vertrieb ihm immerhin die Zeit bis zu Gavinis Rückruf.
Beim ersten Klingeln nahm er ab. »Brunetti.«
»Commissario«, begann Gavini, erst dann nannte er seinen Namen. »Ich habe mir sowohl unsere Klientenkartei als auch die Anrufverzeichnisse angesehen.« Brunetti wartete auf mehr. »Ein Klient namens Franco Rossi taucht darin nicht auf, aber Sandro hat in dem Monat vor seinem Tod dreimal Rossis Nummer angerufen.«
»Welche? Die private oder die dienstliche?«
»Ist das von Bedeutung?«
»Alles ist von Bedeutung.«
»Die dienstliche«, antwortete Gavini.
»Wie lang waren diese Gespräche?«
Der andere mußte das Verzeichnis offen vor sich liegen haben, denn er antwortete unverzüglich: »Zwölf Minuten, dann einmal sechs und noch einmal acht.« Gavini wartete, ob Brunetti etwas dazu sagen wollte, und als das nicht der Fall war, fragte er: »Und Rossi? Wissen Sie, ob er seinerseits Sandro angerufen hat?«
»Ich habe seine Telefonrechnungen noch nicht prüfen lassen«, räumte Brunetti mit einer gewissen Verlegenheit ein. Als Gavini nichts sagte, fuhr Brunetti fort: »Morgen werde ich sie haben.« Da fiel ihm plötzlich ein, daß dieser Mann ja nur ein Anwalt war, kein Kollege, und er sich ihm gegenüber weder verantworten noch ihn an seinen Informationen teilhaben lassen mußte.
»Welcher Untersuchungsrichter bearbeitet den Fall bei Ihnen?« erkundigte er sich.
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Ich würde gern mit ihm reden.«
Ein langes Schweigen war die Antwort.
»Kennen Sie seinen Namen?« bohrte Brunetti.
»Righetto, Angelo Righetto«, kam es gepreßt über die Leitung. Brunetti beschloß, jetzt nicht nachzuhaken. Er dankte Gavini, versprach nicht, ihn wegen der Telefongespräche, die Rossi geführt haben mochte, noch einmal anzurufen, und legte auf. Dabei machte er sich so seine Gedanken über die Kälte in Gavinis Stimme, als er den Namen des Mannes aussprach, der den Mord an seinem Partner untersuchte.
Er rief sofort bei Signorina Elettra an und bat sie, ihm eine Liste aller Telefongespräche zu besorgen, die in den letzten drei Monaten von Rossis Privatanschluß aus geführt worden waren. Als er sie fragte, ob sie auch Rossis Durchwahlnummer im Ufficio Catasto überprüfen könne, fragte sie nur zurück, ob er auch davon die Gespräche der letzten drei Monate haben wolle.
Da er sie schon einmal am Apparat hatte, bat er sie gleich noch, ihm eine Verbindung mit Magistrate Angelo Righetto in Ferrara herzustellen.
Dann nahm er ein Blatt Papier, um eine Liste der Leute aufzustellen, die ihm vielleicht etwas über Geldverleiher in der Stadt sagen konnten. Er selbst wußte über Kredithaie
Weitere Kostenlose Bücher