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Buddhas kleiner Finger

Buddhas kleiner Finger

Titel: Buddhas kleiner Finger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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da sie einander nach dem Anbinden der Pferde Verse vorgetragen hatten. Selbst wenn es, aus jetziger Sicht, Pferde und Verse nicht wirklich gegeben hatte, dieser Moment war echt, und der Wind, der von Süden wehte und den nahenden Sommer verhieß, und die Sterne am Himmel – all dies war so echt, wie es sich gehörte. Und verglichen mit jener Welt draußen vor der Tür, die einem ab acht Uhr morgens offenstand. In Serdjuks Gedankenstrom war eine kurze Lücke entstanden, durch die er sogleich die leisen Geräusche wahrnahm, die von allen Seiten zu ihm drangen. Im Bauch Kawabatas, der mit geschlossenen Augen neben dem Fax saß, rumorte es. Serdjuk war sich sicher, daß Kawabata die ganze Prozedur mit Glanz und Eleganz hinter sich bringen würde. Dabei schien die Welt, die der Japaner zu verlassen sich anschickte – verstand man darunter all das, was einem an Gefühlen und Erfahrungen im Leben beschieden ist –, bei weitem attraktiver als die stinkenden Moskauer Straßen, die auf Serdjuk jeden Morgen einstürmten, wenn Filipp Kirkorow im Radio dazu sang.
    Gleich darauf wußte Serdjuk, wie er so plötzlich auf Kirkorow kam – hinter der Wand, wo die Mädchen saßen, erklang eines seiner munteren Liedchen. Es gab nebenan einen kurzen Wortwechsel, unterdrücktes Schluchzen, und die Programmwahltaste klickte. Nun strahlte der unsichtbare Fernseher Nachrichten aus, und Serdjuk gewann den Eindruck, als wäre dies gar kein anderer Sender, Kirkorow hätte nur aufgehört zu singen und statt dessen zu reden begonnen. Er hörte eines der Mädchen aufgeregt wispern:
    »Guck doch! Wieder besoffen! Wie er den Kohl umarmt! Ich sag dir, der ist sternhagelvoll!«
    Serdjuk überlegte einen letzten Moment.
    »Soll mir alles den Buckel runterrutschen«, sagte er. »Schwert her!«
    Kawabata kam geeilt, kniete auf ein Bein nieder und reichte ihm, den Griff voran, das Schwert.
    »Warte«, sagte Serdjuk und knöpfte sich das Hemd unter dem Jackett auf. »Durchs T-Shirt durch – geht das?«
    Kawabata überlegte.
    »Doch, es hat solche Fälle gegeben. Vierzehnhundertvierundfünfzig schlitzte sich Takeda Katsuyori, als die Schlacht bei Okehazama verloren war, direkt durch das Jagdwams den Bauch auf. Also kein Problem.«
    Serdjuk nahm das Schwert in die Hand.
    »Nein, nicht so«, sagte Kawabata. »Ich sagte doch: die Rechte an den Griff, und die Linke dorthin, wo das Papier ist. Genau.«
    »Jetzt einfach so rein?«
    »Moment, Sekündchen.«
    Kawabata rannte quer durch das Zimmer, ergriff sein großes Schwert, kam zurück und baute sich hinter Serdjuks Rücken auf.
    »Muß nicht tief sein. Bei mir ist es was anderes, ich hab ja keinen Sekundanten. Sie Glückspilz! Wahrscheinlich haben Sie Ihr Leben gut gelebt.«
    Serdjuk lächelte schwach.
    »Eher normal«, sagte er. »Wie alle.«
    »Dafür sterben Sie wie ein Krieger«, sagte Kawabata. »Wollen wir? Ich bin bereit. Soll ich bis drei zählen?«
    »Gut«, sagte Serdjuk.
    »Tief einatmen«, befahl Kawabata. »Und: eins … zwei …«
    Plötzlich fiel Serdjuk ein, daß er nicht nachgesehen hatte, ob die Flämmchen in den Laternen beim Eingang echt waren – jetzt war es dafür natürlich zu spät.
    »Zwoeinhalb … Und drrrei!«
    Serdjuk rammte sich das Schwert in den Bauch.
    Der Rand des Papiers rutschte bis an das Shirt. Es tat nicht sehr weh, nur die Kälte der Klinge verspürte er deutlich.
    Auf dem Boden klingelte das Faxgerät.
    »Jawohl«, sagte Kawabata. »Und jetzt rauf und nach rechts. Mehr, noch mehr … So ist es gut.«
    Serdjuks Beine zuckten.
    »Jetzt schnell zur Mitte hin drehen. Und drücken, mit beiden Händen! Ja, sehr schön. Genau so. Vielleicht noch ein, zwei Zentimeterchen.«
    »Ich kann nicht mehr«, röchelte Serdjuk, »es brennt so.«
    »Was dachtest denn du!« sagte Kawabata. »Wart einen Moment.«
    Er sprang zum Faxgerät und nahm den Hörer ab.
    »Hallo! Ja! Richtig. Ein Null-Neuner. Zweitausend gefahren.«
    Serdjuk ließ das Schwert fallen und preßte die Hände gegen den blutenden Bauch.
    »Schnell«, röchelte er, »schnell!«
    Kawabata runzelte die Stirn und bedeutete Serdjuk mit einer Geste zu warten.
    »Was?« brüllte er in den Hörer. »Wieso zu teuer? Dreieinhalb! Ich hab fünftausend dafür hingelegt vor einem Jahr!«
    Langsam, wie zu Beginn einer Kinovorführung, erlosch in Serdjuks Augen das Licht. Für kurze Zeit saß er noch da, dann kippte er allmählich zur Seite. Noch bevor seine rechte Schulter den Boden berührte, hatte er jedes Körpergefühl

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