Bußestunde
dicht ran und sahen zu. Und jubelten und schrien. Er bekam unseren Respekt.«
»Und ein paar Monate danach versuchte er sich das Leben zu nehmen.«
»Niemand weiß, ob das etwas damit zu tun hatte.«
»Nicht?«
»Nicht im Geringsten. Er fand es klasse. Er fickte wie ein Besessener. Wir haben einem hoffnungslosen, beschissenen Loser geholfen, seine Unschuld zu verlieren.«
»Aber Ihre war noch intakt«, sagte Sara. »Sie standen daneben und hüpften und applaudierten und jubelten. Und plötzlich waren Sie sehr viel unschuldiger als Jocke.«
»So what?«
»Sie wissen, dass Jocke das hier getan hat, nicht? Sie wissen, dass er es ist auf diesen Bildern? Mit der grässlichen Schminke, dem idiotischen Tüllrock und der kranken Perücke?«
Da schwieg Matilda Broman wieder.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie nach einer Weile. »Ich erkenne ihn nicht.«
»Aber Sie wissen, dass er es ist?«
»Er müsste es sein«, sagte Matilda. »Er müsste es sein.«
*
»Sechs«, sagte Jorge Chavez.
»Bist du sicher, dass du hier sein solltest?«, fragte Jon Anderson. »Du hast deinen besten Freund verloren. Solltest du nicht nach Hause fahren und zur Ruhe kommen? Was mit deiner Tochter machen? Dich sammeln?«
»Isabel ist bei ihrer Großmutter«, sagte Jorge. »Ich hoffe, dass der Großvater arbeitet. Dann ist es ruhiger.«
»Aber trotzdem?«
»Warum sollte es leichter werden, wenn ich zu Hause sitze und Nägel kaue?«
»Und was war das mit sechs?«, fragte Jon Anderson.
»Finger«, sagte Jorge Chavez.
»Nein«, sagte Jon. »Ich kann dir nicht folgen.«
»Vor langer Zeit«, erklärte Jorge. »Sechs Finger vor der Überwachungskamera an der Tankstelle. Warum?«
»Sechs Opfer, schlage ich vor.«
»Wie Åsa Karlsson, Louise Strömberg, Armanda Carneiro, Lisa Jakobsson und Hanna Hörnblom?«
Jon Anderson runzelte die Stirn. Jorge sah, wie er innerlich mit den Fingern zählte.
In seinem eigenen Inneren liefen ganz andere Dinge ab. Trauerarbeit eben. Wenn auch auf seine ganz persönliche Art und Weise.
»Gerade jetzt, wo ich dabei bin, die IP-Adresse herauszubekommen«, sagte Jon.
»Du brauchst dein kleines Hirn hiermit nicht zu behelligen«, sagte Jorge. »Ich hab es schon gefunden. Es war früher. Ein paar Monate vor dem Mord an Åsa Karlsson. Ein Testmord. Andrea Ottosson in Östersund. Ein Mädchen, das auf dem Gymnasium einen Jungen dazu trieb, eine Vergewaltigung zu begehen. Die Sache wurde aufgedeckt, und sie wurde ermordet. Es gab auch Anzeichen von Folter. Der Mann, der dazu angestachelt wurde, sie zu vergewaltigen, sitzt immer noch wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft.«
»Niemand kann dazu getrieben werden, eine Vergewaltigung zu begehen«, sagte Jon.
»Möglicherweise hast du recht«, sagte Jorge. »Aber das Ganze wurde gefilmt. Durchs Fenster. Der Film war lange im Internet zu sehen. Ich habe eine Kopie aufgetrieben. Die Kamera befand sich schräg außerhalb des Fensters, und auf dem Film waren die ganze Zeit ein Stück der Hausfassade und das Fenster zu sehen.«
»Wow«, sagte Jon Anderson. »Wie die Überwachungskamera in der Jungfrugatan?«
»Ja«, bestätigte Jorge Chavez. »Man kann sich vorstellen, dass es eine direkte Inspiration gab. Hier fing es an. Jocke Bergsten sieht beim einsamen nächtlichen Surfen den Film – und erkennt sein Jugendtrauma. Auf die gleiche Art und Weise gefilmt, vielleicht, von draußen durchs Fenster. Es war ein schwerer Schock, all das Verdrängte kam zurück. Als er die Sache näher untersuchte, hörte er von dem Fall in Östersund. Die Parallelen führten dazu, dass er zum Mörder wurde, dass er sich in diese seltsame Figur Tiina Spinroth verwandelte. Der Mord an Andrea Ottosson war der Ursprung. Hier wird Jocke Bergsten zum Mörder.«
»Litt diese Andrea möglicherweise unter Essstörungen?«
»Sie war auf jeden Fall sehr schlank«, sagte Jorge Chavez.
»Interessant«, sagte Jon Anderson. »Dann stimmt die Mathematik besser.«
»Aber auch das psychologische Profil«, fügte Jorge Chavez hinzu.
»Und wie sieht das aus?«
»Jocke Bergsten wird zum Mörder, weil er plötzlich eines Abends im Internet einen Film sieht, der ein traumatisches Erlebnis aus seiner Zeit am Gymnasium in ihm wachruft. Er erkennt, dass er damals auf eine Art und Weise erniedrigt wurde, die ihn psychisch für den Rest seines Lebens geschädigt hat – und ihn dazu brachte, einen Selbstmordversuch zu unternehmen. Seitdem hat er eine Ausbildung als Informationstechniker absolviert und ist
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