Camorrista
eine ruckartige Kopfbewegung und spuckt in weitem Bogen in die Brombeeren. Dringend ein Strategiewechsel nötig.
»Meinst du, dass dich vielleicht einer aus dem Zentrum erkannt hat?«
»Ach was, da wollen immer alle reden und fragen mich ständig irgendwelche Sachen, aber ich stehe nicht so darauf, dauernd zu reden. Ich habe ihnen gesagt, dass du meine Schwester bist und dass du in Ordnung bist - und damit basta, die sollen mich nicht nerven.«
Ich will ihn überzeugen, dass wir das geringste Risiko eingehen, wenn wir bei unseren Rollen bleiben, genauso wie er mich überzeugt hat, dass die Spuren dieses Beobachtungspostens ein sehr schlechtes Zeichen sind. Ich verspreche ihm, die Sache ernst zu nehmen, wenn er mir keinen Ärger im Zentrum macht. Es ist eine Art Handel. Mich jetzt besorgt zu sehen beruhigt ihn ein bisschen.
»Wenn du mit den anderen redest und irgendwas erfindest, schreib es dir vielleicht auf. Und sag es mir sofort.«
( Er hat viel von dir gesprochen. )
»Ich habe erfunden, dass wir keine Eltern mehr haben und dass wir uns viele Jahre lang nicht gesehen haben, weil wir uns schlimm gezofft hatten.«
»Und weshalb?«
»Du wolltest nicht, dass ich Drogen nehme.«
»Okay. Seit wann sind unsere Eltern tot?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Lass uns das absprechen. Unser Vater seit fünf Jahren.«
»Warum?«
»Du hattest neulich ein T-Shirt an, auf dem eine Fünf war.«
»Unsere Mutter seit letztem Jahr. Das ist einfach.«
»Okay, Vater seit fünf Jahren, Mutter seit einem.«
Er geht langsamer als ich den Weg hinunter, und ich kapiere, dass er die Rückkehr so lange wie möglich hinauszögern will (ich dagegen habe es eigentlich eilig). Während ich mich überholen lasse (besser hinter ihm bleiben, um ihn im Auge zu behalten), fängt er wieder an, über das Zentrum zu reden.
»Sie nerven mich dauernd mit allem Möglichen, Küchendienst, Malen, Töpfern. Was geht mich das denn an? … Gestern wollte eine sogar ficken.«
»Wer?«
»Die Dicke mit den vorstehenden Zähnen.«
»Jana?«
»Ja, die. Und Aids hat sie auch noch.«
»Und woher weißt du das?«
»Das hat mir ihre Freundin gesagt, die andere, die Dünne.«
»Das heißt nicht, dass es wahr ist.«
»Hast du sie denn heute nicht gesehen? Die Dünne hat den ganzen Morgen lang geheult, verdammt.«
Ich erinnere ihn daran, dass im Zentrum jemand gestorben ist (vielleicht ein bisschen zu entrüstet).
»Als hätten die sich was aus Oscar gemacht. Den fanden alle furchtbar. Sein Leben bestand doch nur darin, den Hund da zum Pissen rauszubringen. Die denkt, dass ihre Freundin genauso wie Oscar stirbt, darum geht’s.«
Der Hund ist irgendwo im Gebüsch, Cocíss genügt ein Pfiff, und er kommt zurück auf den Weg.
Er baut sich vor mir auf, als ich die Autotür öffne.
Ich hatte ihn Richtung Ställe gehen sehen, wie er auf seinen O-Beinen unter dem Gewicht eines großen, vollen Waschbottichs schwankte. Aber er ist tatsächlich um den Lattenzaun herumgegangen. Eigens um mich zu treffen.
»Bist du die Schwester von Giovanni?«
Tja, das ist so eine Frage. Ich schaue ihn mir genau an und erinnere mich, dass er bei dem Fußballspiel neulich dabei war. Er hat dichtes, kurzes Haar, eine eckige Stirn, und die Muskeln seiner Schultern treten hervor.
»Und wer bist du?«
»Ich bin Vassilj. Und dein Bruder: ein Arschloch.«
Der hat noch gefehlt.
»Mein Bruder hat Probleme. Und du lass ihn zufrieden.«
Ich hoffe, dass er aufhört, aber das tut er nicht. Er wird böse, bleibt hartnäckig.
»Er muss arbeiten. Alle arbeiten hier.«
»Ich weiß, aber im Moment geht es ihm nicht gut.«
»Es geht ihm sehr gut. Er will bloß nicht arbeiten.«
(Er hat recht, aber ich weiß nicht, was ich da machen kann.)
»Er muss sich nur erholen. Dann wird er arbeiten wie alle.«
»Ein Arschloch ist der.«
»Denk, was du willst, aber lass ihn in Ruhe, verstanden?«
Er scheint überrascht. Vielleicht sollte sich eine Frau nicht so an einen Vertreter des männlichen Geschlechts wenden. Oder vielleicht ist bei mir der Bullentonfall durchgebrochen.
Ihm fällt die Klappe runter. Dann sperrt er Mund und Augen auf, zieht eine Grimasse - und plötzlich sehe ich nichts mehr. Ich werde überschwemmt von kaltem Wasser, das nach Spülmittel und faulem Ei riecht. Der Bottich fliegt weg, rutscht über die Haube meines Autos, und ich weiß nicht, was ich tun soll, oder besser: weiß nur, dass ich nichts tun kann. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht und
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