Carre, John le
Wegs
zurückbegleitet; tapfer, so daß nur eine welterfahrene Frau - eine Frau, die
überdies die Engländer kannte - den verborgenen nagenden Kummer gewahren
konnte: so verwirrt, daß er versäumt habe, ihr ein Trinkgeld zu geben. Oder
fing er bereits an, sich in der hochgradigen Knickrigkeit der Superreichen zu
üben? -
»Aber wie
hat sich die Waise verhalten?« fragten sie. Habe sie nicht geschluchzt und die
Heilige Jungfrau angerufen, um zum Schein seinen Gram zu teilen?
»Er muß es
ihr erst noch sagen«, flüsterte die Postmeisterin und entsann sich des einzigen
kurzen Blicks, den sie auf das Mädchen erhascht hatte, während es auf das
Fleisch einschlug: »Er muß erst über ihre Position nachdenken.«
Das Dorf
beruhigte sich, wartete auf den Abend, und Jerry saß in seinem Hornissenfeld,
blickte aufs Meer und drehte den Büchersack so lange rundum, bis es nicht mehr
ging und der Sack sich wieder zurückprallte.
Zuerst kam
das Tal und darüber ragten im Halbkreis die fünf Hügel und über den Hügeln sah
man das Meer, das um diese Tageszeit nur ein flacher brauner Fleck am Himmel
war. Das Hornissenfeld, in dem er saß, war ein langer, von Steinen gesäumter
Erdstreifen mit einer verfallenen Scheune an der einen Ecke, die ihnen zum
Picknicken und Sonnenbaden Schutz gewährte, bis die Hornissen in der Wand
nisteten. Sie hatte sie gesehen, als sie Wäsche aufhing, und war hineingerannt,
um es Jerry zu sagen, und Jerry hatte ohne weiteres Nachdenken einen Eimer voll
Mörtel bei Franco geholt und alle Schlupflöcher vermauert. Dann hatte er die
Waise gerufen, damit sie sein Werk bewundern könne: der Mann an meiner Seite,
er beschützt mich allerwege. In der Erinnerung sah er sie deutlich vor sich:
wie sie zitternd neben ihm stand, die Arme um sich geschlagen, und auf den
frischen Zement starrte, den wild rasenden Hornissen drinnen lauschte und
»Jesus, Jesus« flüsterte, starr vor Entsetzen. Vielleicht wartet sie auf mich,
dachte er.
Er
erinnerte sich an den Tag, an dem er sie kennengelernt hatte. Er erzählte sich
diese Geschichte häufig, denn Jerry hatte selten in seinem Leben Glück bei
Frauen gehabt, und wenn es dann einmal der Fall war, ließ er es gern auf der
Zunge zergehen, wie er sich ausdrückte. Es war an einem Donnerstag.. Er hatte
seine übliche Tour in die Stadt gemacht, um einzukaufen oder vielleicht auch
nur um ein paar neue Gesichter zu sehen und eine Weile von seinem Roman
wegzukommen; oder vielleicht nur um der schrillen Eintönigkeit dieser leeren
Landschaft zu entfliehen, in der er sich immer wie inhaftiert vorkam, und wie
in Einzelhaft noch dazu; vielleicht auch mit dem Hintergedanken, daß er sich
eine Frau angeln könnte, was ihm zuweilen gelang, wenn er an der Bar des
Touristenhotels herumlungerte. Er saß also lesend in der Trattoria am
Stadtplatz - eine Karaffe Wein, einen Teller Schinken, Oliven -, als er
plötzlich dieses magere langbeinige Kind erblickte, das rote Haar, das
verdrossene Gesicht, ein braunes Kleid wie eine Mönchskutte und eine
Schultertasche aus Teppichgewebe.
»Sieht
nackt aus ohne Gitarre«, hatte er gedacht. Sie erinnerte ihn vage an seine
Tochter Cat, die Abkürzung für Catherine, aber nur vage, denn er hatte Cat seit
zehn Jahren nicht mehr gesehen, seit dem Scheitern seiner ersten Ehe. Warum er
sie nie mehr gesehen hatte, konnte er auch jetzt noch nicht genau sagen. Unter
dem ersten Schock der Trennung sagte ihm ein wirres Gefühl der Ritterlichkeit,
daß es für Cat besser sei, wenn sie ihn vergäße. »Am besten, sie schreibt mich
ab. Läßt ihr Herz, wo alles übrige wohnt.« Als ihre Mutter wieder heiratete,
schien solche Selbstverleugnung noch mehr angeraten. Aber manchmal hatte er
große Sehnsucht nach ihr, und höchstwahrscheinlich war dies der Grund, warum
das Mädchen, nachdem es ihm einmal aufgefallen war, ihn nicht wieder losließ.
Ging Cat auch so herum, allein und wie gedopt vor Müdigkeit? Hatte Cat noch
immer ihre Sommersprossen und das feste kleine Kinn? Später erzählte ihm das
Mädchen, sie sei ausgerissen. Sie war als Gouvernante bei einer reichen Familie
in Florenz gewesen. Die Mutter war zu sehr mit ihren Liebhabern beschäftigt, um
sich um die Kinder zu kümmern, aber der Herr Papa hatte jede Menge Zeit für die
Gouvernante. Sie hatte alles Bargeld genommen, das sie finden konnte, über die
Mauer gesetzt, und da war sie nun: ohne Gepäck, die Polizei auf den Fersen und
einen letzten schmierigen Geldschein, um sich noch einmal
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