Charlston Girl
jedenfalls hättest du mich vorwarnen können, dass du abhaust«, sage ich genervt. »Du hast mich im Stich gelassen.«
»Und hast du die Kette bekommen? Hast du sie?« Hoffnung leuchtet in Sadies Gesicht, und ich winde mich.
»Tut mir leid. Sie hatten einen Karton mit deinen Sachen, aber die Libelle war nicht dabei. Keiner weiß, wo sie geblieben ist. Es tut mir ehrlich leid, Sadie.«
Ich mache mich für den Wutanfall bereit, das Hexengeschrei ... doch da kommt nichts. Sie flackert nur kurz, als hätte sie einen Wackelkontakt.
»Aber ich bin noch am Ball«, füge ich hinzu. »Ich rufe alle an, die auf dem Flohmarkt waren, falls jemand die Kette gekauft haben sollte. Ich war den ganzen Nachmittag am Telefon. Das war ganz schön harte Arbeit«, füge ich hinzu. »Ziemlich anstrengend.«
An dieser Stelle erwarte ich von Sadie etwas Dankbarkeit. Eine hübsche, kleine Ansprache, wie toll ich bin und wie sehr sie meine Bemühungen zu schätzen weiß. Aber sie seufzt nur ungeduldig und geht weg, mitten durch die Wand.
»Gern geschehen«, sage ich leise.
Ich gehe ins Wohnzimmer und zappe mich gerade durch die Sender, als sie wieder auftaucht. Anscheinend hat sich ihre Laune gebessert.
»Du wohnst mit ein paar echt merkwürdigen Leuten zusammen! Oben liegt ein Mann auf einer Maschine und grunzt.«
»Was?« Ich starre sie an. »Sadie, du kannst doch nicht einfach meine Nachbarn ausspionieren!«
»Was bedeutet ›Shake your booty‹?«, sagt sie, ohne auf mich zu reagieren. »Das Mädchen im Rundfunk hat es gesungen. Klingt komisch.«
»Es bedeutet... tanzen. Alles rauslassen!«
»Aber wieso ›booty‹ ?« Sie sieht ratlos aus. »Bedeutet es: ›Schüttel deine Schuhe‹?«
»Natürlich nicht! Dein booty ist dein...« Ich stehe auf und klatsche mir auf den Hintern. »Das tanzt man so!« Ich lege ein paar Hiphop-Schritte hin, dann blicke ich auf und sehe, dass Sadie sich vor Lachen kaum halten kann.
»Du siehst aus, als hättest du Schüttelkrämpfe! Das ist doch kein Tanz!«
»Es ist ein moderner Tanz.« Mit bösem Blick setze ich mich wieder hin. Zufällig bin ich etwas empfindlich, was mein Tanzen angeht. Ich nehme einen Schluck Wein und betrachte sie mürrisch. Mittlerweile hat sie den Fernseher entdeckt und sieht sich mit großen Augen EastEnders an.
»Was ist das?«
»EastEnders . Eine Fernsehserie.«
»Warum sind alle so böse aufeinander?«
»Keine Ahnung. Sind sie immer.« Ich nehme noch einen Schluck Wein. Ich kann nicht glauben, dass ich meiner toten Großtante EastEnders und Shake your booty erkläre. Sollten wir uns nicht über Wichtigeres unterhalten?
»Sag mal, Sadie... was bist du eigentlich?«, bricht es aus mir hervor, und ich stelle den Fernseher ab.
»Was meinst du damit? Was ich bin?« Sie klingt gekränkt. »Ich bin ein Mädchen. Genau wie du.«
»Ein totes Mädchen«, präzisiere ich. »Also nicht genau wie ich.«
»Daran musst du mich nicht erinnern«, sagt sie frostig.
Ich sehe zu, wie sie sich auf der Sofalehne einrichtet, offenbar in dem Versuch, so natürlich wie möglich auszusehen, nur zeigt die Erdanziehung keine Wirkung.
»Besitzt du irgendwelche Superheldenkräfte?«, versuche ich es anders. »Kannst du Brände entfachen? Oder dich ganz lang und dünn machen?«
»Nein!« Sie wirkt verletzt. »Außerdem bin ich dünn.«
»Hast du einen Feind, den du vernichten musst? Wie Buffy?«
»Wer ist Buffy?«
»Die Vampirjägerin«, erkläre ich. »Aus dem Fernsehen. Sie kämpft mit Dämonen und Vampiren...«
»Sei nicht albern!«, fällt sie mir ins Wort. »Vampire gibt es nicht.«
»Na, Geister aber auch nicht!«, erwidere ich. »Außerdem ist es nicht albern! Hast du denn überhaupt keine Ahnung? Die meisten Geister kehren zurück, um gegen die dunklen Mächte des Bösen zu kämpfen oder Menschen ins Licht zu führen oder so. Sie machen irgendwas Positives. Die hocken nicht vorm Fernseher.«
Sadie zuckt mit den Achseln, als wollte sie sagen: »Mir doch egal.«
Ich trinke von meinem Wein und denke scharf nach. Offensichtlich ist sie nicht hier, um die Welt vor dunklen Mächten zu beschützen. Vielleicht hat sie eine Antwort auf Not und Elend der Menschheit oder die Frage nach dem Sinn des Lebens. Vielleicht soll ich etwas von ihr lernen.
»Du hast also das ganze 20. Jahrhundert erlebt«, überlege ich. »Das ist echt erstaunlich. Wie war denn... äh... Winston Churchill so? Oder JFK! Meinst du, er wurde wirklich von Lee Harvey Oswald ermordet?«
Sadie starrt mich an,
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