Chronik der Vampire 03 - Königin der Verdammten
suchte den Schutz des Hauses auf. Die Sonne hatte die Wolken entzündet, und der Horizont war zu einem Inferno geworden.
Daniel regte sich in der Dunkelheit. Der Schlaf schien eine Decke von ihm gelüftet zu haben, die nahe daran war, ihn zu erdrücken. Er sah das Funkeln der Augen Armands. Er hörte Armands Flüstern: »Sie hat ihn genommen.«
Jesse stöhnte laut auf. Schwerelos trieb sie in perifarbene Düsternis. Sie sah, wie sich zwei Gestalter erhoben, die zu tanzen schienen - die Mutter und der Sohn. Wie aufschwebende Heilige auf dem Fresko einer Kirchendecke. Ihre Lippen formten die Worte: »Die Mutter.«
In ihrem tiefen Grab unter dem Eis schliefen Pandora und Santino und hielten sich umfangen. Pandora hörte das Geräusch. Sie hörte Khaymans Schrei. Sie sah, wie Lestat geschlossenen Auges und mit zurückgeworfenem Kopf in Akaschas Umarmung davonschwebte. Sie sah, wie Akaschas schwarze Augen auf sein schlafendes Gesicht gerichtet waren. Pandoras Herz stockte kurz vor Entsetzen.
Marius schloß die Augen. Er konnte sie nicht länger offenhalten. Oben heulten die Wölfe; der Wind zerrte am Stahldach seines Anwesens. Durch den Eissturm drangen die schwachen Sonnenstrahlen, als wollten sie den treibenden Schnee entzünden, und er spürte, wie die Wärme zu ihm durchdrang, um ihn zu betäuben.
Er sah den schlafenden Lestat in ihren Armen; er sah, wie sie sich in den Himmel erhob. »Hüte dich vor ihr, Lestat«, flüsterte er mit dem letzten Hauch seines Bewußtseins. »Gefahr.«
Teil III
WIE AM ANFANG, JETZT UND IMMERDAR…
Verberge mich vor mir.
Fülle diese Löcher mit Augen,
denn die meinen sind nicht die meinen.
Verberge meinen Kopf,
denn ich tauge nichts,
so oft so tot im Lehm.
Sei Flügel und beschatte mein Ich von meinem Wunsch,
ein Fisch an der Angel zu sein.
Dieser Wurm sieht köstlich aus und macht mich blind.
Und verberge auch mein Herz,
denn ich werde es,
unter diesen Umständen,
irgendwann noch essen.
Stan Rice
Kannibale
1
Lestat: In den Armen der Göttin
Ich weiß nicht mehr, wann ich erwachte, wann ich wieder Herr meiner Sinne wurde.
Ich erinnere mich jedoch, daß ich gleich wußte, daß sie und ich lange Zeit zusammengewesen waren, daß ich mit tierischer Hemmungslosigkeit ihr Blut gesaugt hatte, daß Enkil zerstört war und daß sie allein die urzeitliche Macht in Händen hielt und daß sie mich Dinge zu verstehen und sehen lehrte, die mich wie ein kleines Kind weinen machten.
Vor zweihundert Jahren, als ich im Schrein von ihr getrunken hatte, war ihr Blut ruhig gewesen und gespenstisch. Jetzt schwemmte es mich mit Bildern voll, die das Gehirn nicht minder entzückten als das Blut den Körper; ich verstand alles, was geschehen war.
Es schien, daß ich in einem klaren Moment alles in Verbindung bringen konnte - das Rockkonzert, das Haus in Carmel Valley, ihr strahlendes Gesicht. Und das Wissen, daß ich jetzt bei ihr war, in dieser dunklen, verschneiten Stätte. Ich hatte sie erweckt. Oder vielmehr, wie sie es sagte, ich hatte ihr den Grund geschenkt, sich zu erheben. Den Grund, sich umzudrehen und auf den Thron, auf dem sie gesessen hatte, zurückzublicken und die ersten zögernden Schritte von ihm fort zu wagen.
Weißt du, was es bedeutete, die Hand zu heben und sie sich im Licht bewegen zu sehen? Weißt du, was es bedeutete, plötzlich den Klang meiner eigenen Stimme zu hören, die sich in der Marmorgruft brach?
Natürlich hatten wir zusammen in dem dunklen, schneebedeckten Wald getanzt, oder hatten wir uns nur immer wieder umarmt?
Schreckliche Dinge waren geschehen. Auf der ganzen Welt schreckliche Dinge. Die Exekution jener, die nie hätten geboren werden sollen. Laich des Bösen. Das Massaker nach dem Konzert war nur das Ende gewesen.
Doch jetzt lag ich in ihren Armen in dieser frostigen Finsternis, im vertrauten Geruch des Winters, und ihr Blut war wieder meins, und ich war ihm verfallen. Sobald sie sich abwandte, litt ich Höllenqualen. Ich mußte meine Gedanken ordnen, mußte wissen, ob Marius noch am Leben war, ob Louis und Gabrielle und Armand verschont geblieben waren. Ich mußte mich wieder selbst finden, irgendwie.
Aber die Stimmen, die steigende Flut der Stimmen! Sterbliche nah und fern.
Die Entfernung machte keinen Unterschied. Die Intensität war der Maßstab. Millionenfach hatte sich mein Hörvermögen gegenüber früher verstärkt, als ich noch in einer Straße stehenbleiben konnte, um den Mietern in irgendeinem
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