Clemens Gleich
ausgeprägte Restlichtsicht sehr deutlich in sein Wahrnehmungszentrum drängten. Die krustigen Töpfe voller Essensreste. Die Schabenfamilien, die in Ritzen knisternd für neue Generationen sorgten. Die Hauptursache des prägnanten Geruchs: ein alter Mann auf einem Lumpenlager. Ein alter Mann! Pi sprang ihn an, herzte und küsste ihn. Obgleich geruchsgewohnt, unterlag der arme Teufel dem aggressiven Gestankangriff dieses braun verschmierten Monsters und erbrach sich hustend in seinen filzigen Bart.
Ohne den Alten weiter zu beachten, zog Pi ihm das Bettzeug weg, um daran das Gröbste des ihm anhaftenden Drecks abzuwischen. Er säuberte sich komplett in der Trinkwasserzisterne, die den Regen vom Wellblechdach sammelte, bediente sich an den knappen Essensvorräten und dem Kleingeld, das er dabei in einer Keksdose fand und machte sich schließlich aus dem Staub – jetzt (für Slum-Verhältnisse) gesellschaftsfähig.
Diese kurze Episode hatte Pi stark aufgeheitert; er stolzierte durch die Slum-Straßen, als gehörten sie ihm. In einem äußeren Winkel seines Sichtfelds registrierte er etwas Buntes, aber Bekanntes auf einem Müllhaufen. Pfeifend trat er näher und nahm den Fetzen in die Hand. Es war ein zerknülltes Plakat. Es zeigte nach kurzer Glättung "Die untragbare Ausnutzung unserer Mitwesen" oder behauptete es zumindest. Unverwechselbar dämlich. Er hatte eben dieses Motiv schon im Laden der berufungsbetroffenen Frau gesehen und studierte es daher mit etwas mehr als minimalem Interesse. Das Motiv war ebenso naiv, doch die handwerkliche Ausführung war um Längen besser. Der Müllhaufen hinter ihm bewegte sich und beschwerte sich darüber, dass ihm seine Decke entzogen wurde. Ohne sich umzudrehen, setzte sich Pi auf den Kopf, aus dem die Beschwerden kamen. Ein Grinsen teilte die blaue Fratze. In einem seltenen Anfall von Geschäftstüchtigkeit hatte ein gewisser Milo Weinwasser nämlich seinen Namen und seine Adresse klein in eine Ecke des Kartons vermerkt. Wenn das mal keine heiße Spur war. Nur ein verwandter oder befreundeter Volldepp würde solche Poster zu einem Preis malen, den eine Arschpfeifenverkäuferin zahlen konnte. Pi begann, eine scheußliche Melodie zu improvisieren: "Ich kriieg dich..."
Pikmo und Jianna schnitten wandernd eine Fahrwasserschneise in ein Meer mannshohen Grases. Jianna kontrollierte regelmäßig ihre Kopfkompassnadel, genoss aber ansonsten die in Anbetracht der Umstände geradezu erstaunlich entspannte Stimmung. Sie riss eine Handvoll Rispen aus und drehte den Kopf zu Pikmo.
"Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?", fragte sie.
"Es kommt mir vor, als hätte ich sie schon immer gekannt", antwortete Pikmo in unerwartet gewundener Eloquenz.
"Ja, aber wann hast du sie das erste Mal gesehen?", bohrte sie nach.
"Sie hat mich im Biolabor besucht." Pikmo guckte geradeaus. Jianna guckte Pikmo an.
"Ist das nicht verboten?"
"Doch. Ohne Extraerlaubnis dürfen das normal nur Besitzer."
"Eine Frau mit Initiative! Sehr sympathisch!" Jianna versuchte, ihre eigene Neugier in Enthusiasmus bei ihrem Gegenüber umzusetzen, erntete jedoch nur Schweigen.
"Was noch?", fragte sie daher nach.
"Hm?"
"Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen! Erzähl mir ein bisschen von ihr!"
"Was willst du denn wissen?" Jianna war schon wieder nahe daran, sich aufzuregen:
"Ich hab doch grad gesagt..." Zum ersten Mal im Verlauf ihres kurzen Gesprächs sah Pikmo sie an. Sein ernster Gesichtsausdruck ließ sie vorläufig verstummen.
"Ich bin nicht so wie du", stellte Pikmo klar. "Ich kann schlecht romantisch erzählen. Ich bin so gemacht. Alles, was ich weiß, ist: Ich denke beim Einatmen an sie; ich denke beim Ausatmen an sie; ich denke bei jedem Gedanken, wie ich ihr den erzähle oder was sie davon halten würde. Ich will sie die ganze Zeit sehen und halten und drücken."
"Wow", sagte Jianna nach einer Weile leise. "Ich bin beeindruckt. Ich wünschte, mir hätte mal jemand so seine Liebe erklärt." Eine Weile pflügten sie schweigend weiter durchs Gras.
"Und deine Besitzerin?", fragte Jianna schließlich.
"Die nicht. Aber ich gehorche ihr. Ich bin so gemacht."
"Ich bin so gemacht", sagte der Fellige. Hauptmann Gramp zog ein finsteres Gesicht. Diese Antwort gefiel ihm gar nicht. Er hasste diese Felligen mit ihrer maschinenhaften Befehlstreue und ihrer unschuldigen Selbstverständlichkeit dabei. Mit gutem Grund, wie er selbst fand: Ein Felliger hatte vor langer Zeit durch seine steife Befehlserfüllung
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