Clemens Gleich
nicht zu tun:
"Dieser Wächter...", fing sie an und ließ der aufgestauten Betroffenheit freien Auslauf in ihrem Gesicht. "Ich habe das Gefühl, dass der uns in eine unlösbare Zwickmühle gebracht hat. Sie werden uns bald verhaften, oder?"
"Ich finde, es läuft hervorragend", sagte Pikmo im Brustton der Überzeugung. "Wir kommen gut voran, keiner hält uns hier auf und es kann gar nicht mehr weit sein." Jianna grinste gegen ihren Willen, nun ein bisschen erleichtert. Pikmo fand, dass er ziemlich gut lügen konnte und grinste ebenfalls. Bienen schwammen vor den beiden durch die honigzähe Wärme, die Wellen im Gras spielten Fangen. Magie lag in der Luft. Sie knisterte regelrecht. Und entlud sich schließlich: Ein Schwindeln erfasste die beiden, ein Summen, Surren, Säuseln nahm ihre Sinne gefangen und ihnen für den Bruchteil eines Augenblicks die Welt weg. Dann war alles so exakt wie vorher, dass sich Jianna fragte, ob sie eben vielleicht nur einen leichten Schwächeanfall gehabt hatte.
"Was war das?", fragte sie. Und: "Hast du das auch gemerkt?"
"Ja." Pikmo war stehengeblieben und versuchte, in höchster Wachsamkeit die Ursache der Seltsamkeit auszumachen. Doch das Einzige, was sich verändert hatte, war subjektiv: Das Gefühl. Dieselbe Szenerie wirkte mit einem Mal seltsam fremd, auf unerklärliche Weise bedrohlich, unwirklich und feindselig. Derselbe Felsen, der vorher ein wärmendes Landschaftsmerkmal war, schien ihnen jetzt aufzulauern; das Gras um ihn begleitete diese Drohung aggressiv. Doch so sehr Pikmo und Jianna auch versuchten, diese Bedrückung wirklich festzunageln, es gelang ihnen nicht. Das Gras tat dasselbe wie vorher. Es schien nur andere, dunklere Absichten dabei zu haben. Schließlich setzten sie sich langsam wieder in Bewegung. Eine Wahl gab es ohnehin nicht. Die gelöste, fröhliche Stimmung von eben war dahin und mit ihr jeder Wortwechsel. Sie liefen schweigend nebeneinander her und Jianna sah sich immer wieder mit angstgroßen Augen um, auf der Suche nach etwas, dass sie zwar weder zu finden hoffte, noch sich vorstellen konnte, das sie aber genausowenig aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen vermochte. Als Pikmo nach einer Weile auf einmal stehenblieb, stieg eine geradezu panische Angst in Jianna auf. Pikmo zeigte auf eine kleine Figur in einiger Entfernung. Sie hockte auf einem der Findlinge. Sie winkte ihnen zu. Es war ein Kind. Pikmo zuckte mit den Schultern, Jianna antwortete mit derselben Geste, dann näherten sie sich vorsichtig.
Das Kind ließ sie dabei keinen Wimpernschlag mehr aus den Augen: ein Junge mit sommerbronzener Haut, strohblonden Haaren und einem breiten Grinsen, das gleichzeitig arrogant und leicht verschämt aussah, weil er den Mund dabei geschlossen hielt. Er trug einige großflächige Tätowierungen, vor allem auf dem nackten, schmalen Oberkörper, eine überraschenderweise makellose helle Wildlederhose und ein großes Messer in einer Scheide am Steiß. Um seinen Hals hing primitiver Schmuck aus gefärbten Fasern, Holz und Knochen, der leise klapperte. Er hockte wie ein Affe auf seinem sonnenwarmen Stein und bohrte selbstvergessen in der Nase, während er die beiden näherkommenden Gestalten beobachtete. Dann sprang er hinunter und hielt Pikmo strahlend eine Hand von zweifelhafter Sauberkeit entgegen.
"Hallo!", krähte er. "ich bin Fuzz. Freut mich, dich kennenzulernen!"
"Ganz meinerseits. Ich bin Pikmo." Die beiden schüttelten sich grinsend die Hand. Jianna verschränkte die Arme.
"Warum hast du uns gewunken?", fragte sie misstrauisch.
"Ich habe ihn mit jemand verwechselt", antwortete der Junge mit einem Nicken in Richtung Pikmo. "Kommt mit, ich kenne die Gegend hier und weiß, wo man gut schlafen, essen, laufen und träumen kann."
"'Kommt mit' soso...", sagte Jianna. Immer noch fester verschränkte Arme. "Wer bist du überhaupt? Du sitzt hier mitten in der Wildnis, ganz allein, als Kind? Was ist hier eigentlich los?"
"Ist sie dumm?", fragte Fuzz in Richtung Pikmo. "Komm, Pikmo, laufen wir los. Es ist noch viel zu warm zum Essenspause machen." Pikmo zuckte für Jianna nochmals mit den Schultern und setzte sich in Trab. Jianna blieb mit ihren verschränkten Armen und ihrem Misstrauen stehen, aber da sich niemand für ihre Geste interessierte, trottete sie schließlich missmutig hinter den beiden her. Es war ihr lieber gewesen, als sie allein mit Pikmo gewesen war. Und hatte er nicht bisher bei praktisch jeder Entscheidung ihre Vorgabe abgewartet? Hier war doch
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